3. Reich Lebensborn E.V.rtf
bitte um ... ich wollte doch nicht ...« Dann fuhr er hoch.
»Nein!« brüllte er, »ihr bringt mich nicht um! Ich bin unschuldig! Ich habe nichts getan! Laßt mich leben!«
Der Henker hatte Zeit. Fünf Stunden noch.
Die Zelle drehte sich wie ein Kreisel. Der Strick zerrte am Hals. Er würgte und drückte. Westroff-Meyer hörte den Ruck. Er sah den leeren Sarg, das Grab, die Erde. Er heulte. Er warf den Schemel gegen die Wand.
Am Guckloch erschienen die Augen des Postens. Augen ohne Mitleid. Mitleid wäre in die Gosse geschüttet, Erbarmen tödlich. Wer Blut vergießt, des Blut soll vergossen werden ... Wer Gott aufs Herz tritt, hat ohne Gott zu sterben. Westroff-Meyer kauerte wieder stumpf auf seinem Hocker. Er saß in diesen Minuten, die die letzten seines Lebens waren und sich dehnten wie Gummiseile, wieder auf der Anklagebank von Nürnberg. Er kämpfte, leugnete, denunzierte. Er versuchte, die anderen in den Strudel hineinzuziehen, um aus dem fauligbraunen Tümpel herauszukommen. Er wollte die in Blut gebadete Hand zum Meineid heben. Er bat und wimmerte. Nur die Schuld ist so würdelos und feige. Und rings um den Angeklagten wob sich die Verachtung zu einem Leichentuch. Die Gerechtigkeit war nicht so uniformiert wie die Richter. Sie wußten zu unterscheiden. Der biedere Standartenführer aus der Verwaltungszentrale des Lebensborns in München wurde freigesprochen. Westroff-Meyer, der blutige Herodes von Polen, hatte zum Galgen zu marschieren. Mit eigener Kraft oder mit fremder, einsichtig oder verstockt, versöhnt oder mit Haß auf den Lippen, dessen Gefolgsmann er war. Der Strick stellt keine Fragen ...
Schritte. Die rostige Tür. Der bullige MP-Mann. Ein Kopfnicken. So endgültig wie der Tod. Ein Zögern. Ein Griff. 200 Meter noch. Westroff-Meyer blieb stehen. Er schlug mit den gefesselten Fäusten um sich. Es half ihm nicht mehr als die flehend erhobenen Hände den Müttern in Polen. Sein Herz knatterte in den Ohren wie ein Maschinengewehr. Seine Lippen wurden dick. Sein Gesicht verfiel Sein Leben zerrann. Nur die Angst wuchs ins Unendliche.
Seine Schreie hallten von den Wänden wider. Sein Sterben war so abscheulich wie sein Leben. Und so erbarmungslos. So brutal. Selbst noch so egoistisch.
Fünf Holzstufen noch bis zum Grab. Drei Schritte noch bis zum Henker. Fünf Sekunden noch bis zum Strick. Die Schlinge. Die Kapuze. Nein, das tun sie nicht! Keiner hat das Recht, mich zu töten! Man darf nicht sterben lassen! Niemand darf das! Jedem gehört sein Leben. Ihm allein. Und es hat natürlich zu enden, nicht an einem Stück Seil Sie stützten ihn nicht mehr, sie zerrten ihn. Nicht einer der Soldaten und Zivilisten, die Westroff-Meyer in den letzten Tagen des Krieges an den Baum knüpfen ließ, starb so lange, und so leer, und so würdelos ... und so gründlich. Solang er noch sprechen konnte, schrie er nein. Die Kapuze dämpfte seine Stimme. Sie war noch laut genug. Das schwarze Tuch machte ihn blind, bevor sein Blick brach. Der unmenschliche Ruck, der ihm den Halswirbel zerbrach, war ein Akt der Humanität.
Die Zeit normalisierte sich. Die ersten Trümmerberge wurden gerodet. Die Wunden des Krieges heilten langsam und schmerzvoll. Das Leben ging weiter. Für Klaus, Doris und die beiden Kinder in ihrer süddeutschen Heimatstadt. Der frühere Fliegerhauptmann studierte an der Universität Jura. Er hatte sich rascher vom Krieg gelöst als die Zeit. Und das Gespenst des hingerichteten Westroff-Meyer lag so weit hinter ihm wie sein Ritterkreuz.
Die Familie hatte eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung gefunden. Der Vater von Klaus half nach. Die Kinder wuchsen wie Zwillinge auf, tobten im Garten, verprügelten und liebten sich. Doris war vollauf mit ihnen beschäftigt. Und sie nahm ihr Versprechen ernst: keinen von beiden zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Sie liebte sie gleich, den richtigen wie den falschen, der von der Familie Steinbach adoptiert worden ist und jetzt den Vornamen Martin führte. Längst hatte der richtige Klaus das Wort ›Mutter‹ sagen gelernt ohne zu stocken oder rot zu werden. Das Glück war bescheiden und die Bescheidenheit glücklich. Gegenwart und Zukunft verwuchsen zu einem geraden Pfad in den Frieden.
Auch für das Strandgut des braunen Jahrzwölfts, für Tausende von herrenlosen Kindern. Viele von ihnen fanden deutsche Pflegeeltern. Andere wurden von amerikanischen und englischen Familien adoptiert. Die in Polen geraubten Jungen und Mädchen konnten, soweit identifiziert, ihren
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