Das große Leuchten (German Edition)
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Der große Helfer
1
Das riesige Feld der Startbahnen. Aus dem Iran-Air-Flieger heraus gesehen. Vor dem Abflug. Vom Fensterplatz, den Robert mir überlässt, obwohl es auch sein erster Flug ist. Die Spielzeugautos, die dort zwischen den Flugzeugen fahren. Die Beschleunigung, diese Urkräfte, die jetzt verbrannt werden: Das Flugzeug rollt. Der berühmte Menschentraum aus Kabeln und Drähten, in dem man sitzt, ohne selber mitgeschraubt zu haben. Und wie die Erde unter uns wegfällt und sich die Landschaft schräg ins Fenster schiebt.
Es ist Wahnsinn, aber genau so muss es sein, es ist das, was Ana auch machen würde: es einfach versuchen, auch wenn es abwegig scheint. Eben noch in der Einöde und jetzt im Himmel, um sie irgendwo da unten zu finden, unter diesen tiefgelben Lichtmassen. Wir haben exakt sechs Tage und fünf Stunden Zeit. Es ist ein Last-Minute-Flug, der Rückflug ist schon mit drin.
Ich blinzle nicht. Ich versuche jetzt, eine Minute nicht zu blinzeln. Es ist eine Beruhigungstechnik, die wahrscheinlich albern aussieht, aber sie funktioniert, die Farben und Formen hinter dem Bullauge verschwimmen – und wenn ich dann wieder zu blinzeln beginne, entsteht das Gefühl, viel deutlicher zu sehen als zuvor. Ein Klarheitseffekt, ein ruhiger Blick, den ich hier entwickle. Mit Anas Kapuzenpullover im Schoß, der immer noch ein bisschen nach ihr riecht.
Robert schickt mir sein dünnes Lächeln – diesen Blick, der auf etwas hinweisen soll, das sich zwischen den Worten befindet, auch wenn sich da gar nichts befindet, weil wir nicht reden. Er drückt mit demonstrativer Gelassenheit auf dem Bildschirm im Rücken des Vordersitzes herum, staunt über den Entertainment-Arm, der in die Lehne eingefaltet ist wie ein elektronisches Küken. Schlägt sich in die Wolldecke ein, zieht seine Sandalen aus, justiert sich im Sitz. Als wollte er mir seine Lockerheit und Reisefähigkeit beweisen. Dabei ist es offensichtlich, dass er nervös ist – wie er sich am Hals kratzt, der schon ganz gerötet ist von seinen Allergien, wie er an den Knöpfen seines durchgeschwitzten Leinenhemdes rumfummelt. Nebenbei erwähnt er, dass er seine Medikamente nicht im Handgepäck hat, obwohl er sie jetzt nehmen müsste. Ich sage, dass ich über so was jetzt nicht nachdenken kann, er soll sich auf unsere Aufgabe konzentrieren in den nächsten sechs Tagen, schließlich ist er mitgekommen, um zu helfen.
Daraufhin sagt er nichts mehr. Sitzt da und guckt, als säße er immer noch in der Einöde. Im Kräutergarten seiner Mutter oder auf seinem Korbstuhl vor dem Haus. Er scheint innerlich gegen den Gedanken anzukämpfen, dass er sich gerade zum ersten Mal von zu Hause entfernt – und zwar fliegenderweise und mit 700 Stundenkilometern.
Sein Finger findet den Knopf, und der Sitz kippt nach hinten, aber von hinten wird dagegengearbeitet, sodass er wieder nach vorne ruckt – und dann packt er umständlich seine Reiselektüre auf den Tisch, mehrere Bücher über persische Mystik. Um sie nach einer Weile genauso umständlich wieder wegzupacken und stattdessen mit den Iran-Air-Socken und der Duty-free-Broschüre herumzuhantieren, als wäre er darauf aus, mich anzustecken mit seiner Fickrigkeit.
Aber ich sitze hier ruhig, drehe den Blick zum Fenster. Ich sitze hier mit einem ruhigen Gehirn.
Vor mir auf dem Tischchen: mein Brustbeutel. Darin die Adresse und die Telefonnummer von Abolfazl Merizadi, die ich in Anas zurückgelassenen Klamotten gefunden habe. Er will schon mal versuchen, Kontakt zu Anas Mutter herzustellen, hat er am Telefon gesagt, oder zumindest Kontakt zu Kontaktmännern, schließlich ist Anas Mutter Kommunistin, bewegt sich im Untergrund und hat keine Adresse. Wir sollten einfach erst mal kommen, Ana habe sich zwar noch nicht gemeldet, er kenne sie ja gar nicht richtig, aber wir würden sie schon ausfindig machen. Seine Familie sei um mehrere Ecken mit ihrer bekannt.
In diesem überraschend guten Englisch. Sehr klar und sehr nett.
Draußen: glasklare Stadtlandschaften, unsagbar tief unter den Wolken. Ein im aufgeschlagenen Stein funkelnder Erdschatz. Lichtteppiche, die sich im Gebirge verlieren, die sich durch Täler und mittels Brücken über Flüsse ziehen. Ich sage mir, dass es eine beseelte, bedeutsame Erdoberfläche ist, die da unten schimmert. Eine, auf der man Spuren lesen und Wege finden kann, auf der man vielleicht mal fehlgeht, aber nur, um wieder zurückzukommen und die richtige Route zu nehmen.
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