303 - Tod einer Königin
auf ihre Brust. Aruula spürte, wie das Herz der Königin in deren Brustkorb galoppierte. Kaum waren die einzelnen Schläge zu unterscheiden, und es schlug beängstigend unregelmäßig.
»Wir werden weinen, wenn du an Wudans Festtafel gehst, Lusaana.« Aruula kämpfte gegen die Tränen, während sie mit heiserer Stimme sprach. »Du warst uns eine gute Königin. Wir werden dich nie vergessen. Wir...«
»Genug!« Direkt ein wenig energisch klang die Sterbende für einen Augenblick. »Es ist nicht die Zeit, an die Vergangenheit zu denken. Es ist jetzt die Zeit, die Zukunft zu planen...« Ein Hustenanfall erstickte ihre Stimme. Aruula richtete sie auf, damit sie besser durchatmen konnte. Das Husten hörte auf, Lusaana konnte wieder sprechen. »Das Volk der Dreizehn Inseln braucht eine neue Königin.«
»Mach dir doch darüber keine Gedanken«, flüsterte Aruula.
»Worüber sonst? Ich bin die Königin, ich muss doch für mein Volk sorgen...«
»Wir werden jemanden berufen, der würdig ist, deine Nachfolge anzutreten...«
»Du sollst deiner Königin nicht ins Wort fallen, Aruula!« Ein strenger Zug erschien um Lusaanas blassblaue Lippen. »Ihr braucht niemanden zu berufen, ich habe längst gewählt: Du wirst meine Nachfolgerin sein.«
Aruula fuhr hoch. Ihre Augen weiteten sich, blass wurde ihr bronzener Teint. Erschrocken blickte sie der Sterbenden ins Gesicht.
Die bohrte ihren Hinterkopf ins Kissen, rollte die glänzenden Fieberaugen, bis ihre Blicke die anderen fanden: Arjeela, Dykestraa und Tumaara. »Hört ihr, was ich sage?« Die Blicke der anderen Kriegerinnen flogen zwischen dem spitzen, hohlwangigen Gesicht ihrer Königin und der fassungslosen Miene Aruulas hin und her. »Hiermit...«, Lusaana holte röchelnd Luft, »… hiermit berufe ich Aruula zu meiner Nachfolgerin als Königin der Dreizehn Inseln!«
Die anderen nickten. Ihre ratlosen, etwas scheuen Blicke streiften Aruula. Aruula selbst wollte kein Wort über die Lippen kommen. Die Königin atmete hechelnd, versuchte ein letztes Mal Kraft zu schöpfen. »Und nun genug davon, genug von eurer Zukunft. Erzählt mir Geschichten. Erzählt mir, wie die letzte Königin an Wudans Festtafel ging. Erzählt mir von unseren Siegen über die Nordmänner, von unserer Heimat, den Dreizehn Inseln, von den Stränden dort, von den süßen Reizen der Liebe, von meinen Kindern.« Ihre Stimme wurde leiser und heiserer. »Erzählt mir von den ersten Königinnen unseres Volkes, von der Große Astrid und ihren tapferen Töchtern. Erzählt mir, bis ich über die Schwelle zu Wudans Festsaal getreten bin...«
Sie schloss die Augen und lächelte. Und Tumaara begann zu erzählen. Nach einer Stunde löste Arjeela sie ab. Nach ihr übernahm Dykestraa den Part der Erzählerin, und nach drei Stunden war Aruula an der Reihe. Inzwischen hatten sich auch die Jungkrieger in der Kajüte versammelt. Sie schämten sich ihrer Tränen nicht.
Aruulas Erzählung für die Sterbende dauerte nur wenige Atemzüge lang. An der Stelle, als die Große Astrid den Leichnam ihrer geliebten Tochter Beryl dem Meer übergab, hörte Lusaana auf zu atmen. Einfach so. Ihre Gesichtszüge entspannten sich völlig, sie schien sogar zu lächeln.
Sie war tot.
Dykestraa brach als Erste in lautes Weinen aus, Arjeela und Tumaara stimmten mit ein, und bald war die Kapitänskajüte erfüllt von Heulen und Wehklagen.
Aruula ging hinaus. Sie fühlte sich leer. Mit weichen Knien stieg sie die schmale Treppe hinauf, trat aufs Oberdeck, ging zur Bugreling. Die dünne Mondsichel hing in einem sternenklaren Nachthimmel, Südwestwind jagte Wolken über sie hinweg.
Eine alte Kriegerin und einer der Fischer standen oben im Ruderhaus. Im Schein der Öllampen, die dort brannten, sah Aruula ihre fragenden Mienen. Sie nickte.
Daraufhin ließ die Kriegerin den Fischer am Steuerruder allein und kletterte weinend aus dem Ruderhaus. Als Aruula schon am Bug stand, hörte sie die Luke knarren. Und die anschwellende Totenklage aus dem Bauch des Schiffes hörte sie auch.
Sie beugte sich über die Reling und konnte nicht weinen. Sie, Aruula, sollte künftig die Königin der Dreizehn Inseln sein? Unmöglich! Sie war das Leben einer wandernden Kriegerin gewohnt, sie brauchte ihre Freiheit.
Bis zum Morgengrauen lehnte sie dort am Bug und betastete den Gedanken, Königin zu sein, von allen Seiten. Er fühlte sich nicht gut an.
Irgendwann traten Arjeela und Tumaara zu ihr. »Eine wunderbare Wahl«, sagte Arjeela. Ihre Augen waren rot
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