31 - Und Friede auf Erden
Jetzt geht!“
Kaum daß sie sich entfernt hatten, wurde Fu abgerufen. Es sei soeben ein Pao-Chin-Ti (Eilbote) mit einem kaiserlichen Schreiben angekommen. Er kehrte erst nach einiger Zeit zurück, da dieser Mann in gebührender Weise empfangen und als hochwillkommener Gast behandelt werden mußte. Sein Gesicht war ernst, außerordentlich ernst. Man sah ihm an, daß es sich um eine ungewöhnliche, sehr wichtige Sache gehandelt hatte. Er hielt das Schreiben in der Hand, ging nach seinem Platz, setzte sich aber nicht, sondern blieb stehen und sagte, während aller Augen an seinen Lippen hingen:
„Dieser erste Tag der ‚Shen‘ schließt für mich ernst und schwer. In meiner Hand liegt hier das Schicksal ganzer Völker. Wir alle sind einander eng verwandt. Es ist also nicht nötig, daß ich schweige. Ich darf es nicht nur sagen; ihr sollt das Schreiben hören, Wort für Wort.“
Er faltete es auseinander und fügte zur Vorbereitung noch hinzu:
„Wir hörten vorhin sagen: Der Tag der Feindschaft gegen uns ist fast vorüber. Nur eine Stunde noch, dann ist es Mitternacht. Ich aber weiß: Der Tag der Feindschaft ist noch nicht vorüber. Vielleicht ist es noch weit bis Mitternacht! Hört, Freunde, was ich lese!“
Wie gespannt wir waren! Er hob das Schreiben zur Augennähe empor und begann. Aber kaum erklangen die ersten Worte, die er las, so erschallte vom Tal herauf und von allen Seiten her ein vieltausendstimmiger Schrei des Schreckens, in den auch wir einstimmten. Es war plötzlich finster, vollständig finster um uns. Wir eilten an die Fenster. Was sahen wir da? Das Zeichen des Christentums war verlöscht, das herrliche Kreuz, so hoch es war, und in seiner ganzen Breite! Kein Flämmchen war mehr zu sehen, nicht das geringste, kleinste! Doch unten, im Tal, da leuchtete noch immer wie vorher der stille, milde Glanz der ‚Menschlichkeit‘ im Zeichen unserer ‚Shen‘. Und droben in der Höhe standen auch die drei andern Symbole, die nicht elektrisches Licht besaßen, noch in ihrer vollen Klarheit. Nur das Kreuz war finster geworden, sonst weiter nichts! Wie ein dumpfes Brausen stiegen die Stimmen der tief unter uns versammelten Menschheit zu uns empor, und auch unsere Lippen öffneten sich, um nach der Ursache dieser plötzlichen Verfinsterung zu fragen. Tsi war mit mir an dasselbe Fenster gekommen. Er beugte sich hinaus, schaute hinab, wendete sich dann wieder nach dem Saal zurück und sagte:
„Die Leiche eines aus dem Paradies Gestürzten fiel in das Licht; da dunkelte es für einen Augenblick. Jedoch verlöschen kann es nicht für immer, weil es ja Licht aus ewiger Quelle ist!“
Da erklang die Stimme Marys, seiner Braut:
„Stürzte wirklich jemand ab? Oder sprichst du nur im Bild?“
„Nehmt es als Bild, bis wieder Licht geworden ist“, antwortete er. „Nur Leichen sind es, welche Dunkelheit verbreiten; im wahrhaft Lebenden gibt's keine Finsternis. Welche Botschaft hast du empfangen, Vater? Sage sie uns im Dunkeln, da dir das Licht genommen worden ist, sie vorzulesen!“
Da antwortete Fu, und das, was er sagte, klang in der Dunkelheit wie aus der Tiefe eines noch unenthüllten Geheimnisses heraus:
„Mein Sohn, du hast soeben Großes gesagt, und weil es um mich finster ist, bin ich so kühn, es zu wiederholen: Die Leiche eines aus dem Paradies Gestürzten fiel in das Licht; da dunkelte es für einen Augenblick, und dieser Augenblick ist unser Erdenleben; da herrscht nun die Verwesung der Leiche. – – – Meine Brüder, es gibt – – – Krieg!“
„Wo – wo – wo – – – wo?“ rief es rundum.
„Hier – bei uns – im Land unserer ‚Shen‘! Der Bote brachte mir die Trauerkunde. Fragt nicht, weshalb, und fragt auch nicht, mit wem. Ich aber frage im Namen der Menschheit in dieses tiefe Dunkel, in diese Finsternis hinein: – – –“
Er kam nicht dazu, weiterzusprechen, denn plötzlich wurde es wieder hell, fast heller noch, als es vorher gewesen war, um uns und auch da draußen, im Freien. Die Leiche des verunglückten Dilke war, ob durch Naturkraft oder durch Menschenhand, das ließ sich jetzt nicht sagen, beseitigt worden, und sofort kehrte das Licht in die verfinsterten Körper zurück. Von neuem stand das Kreuz in weithin leuchtender Glut, und überall ertönten jubelnde Stimmen, seine Rückkehr zu begrüßen. Bei seinem Licht sahen wir die Scharen der Menschen, welche aus dem Dorf hinauf nach der Kapelle zogen. Das waren nicht nur die bekehrten Anhänger
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