31 - Und Friede auf Erden
Auch sie haben abzustürzen, haben zu verschwinden in der Tiefe, wo das Licht für unsere ‚Shen‘ geboren wird! Denn, wissen Sie, was da unten liegt, wohin Dilke stürzte?“
„Etwa Ihr Elektrizitätswerk, wie ich aus Ihren Worten vermute?“
„Ja. Da fällt im sich verengenden Felsenkamin das Wasser in die senkrechte Tiefe und wird unten aufgefangen, um Licht zu erzeugen und dann die Gärten, Wiesen und Felder zu befeuchten.“
„Schrecklich! Also ist an eine Rettung Dilkes gar nicht zu denken?“
„Er ist tot, unbedingt tot. Wir brauchen gar nicht erst zu forschen. Bedenken Sie doch die Kraft des Sturzes und dann des Wasserfalls! Wenn er nicht vollständig zermalmt und zerrieben wird, so hat das höchstens, falls seine Leiche in das Werk gerät, eine kurze Störung des elektrischen Stroms zur Folge. Ich will aber trotzdem gleich den Ökonom und auch den Ti Pao (Dorfältesten) verständigen, weil man nicht hiervon reden, mich aber sofort benachrichtigen soll, welches Resultat die Nachforschung ergibt.“
Er eilte fort, um das, was er gesagt hatte, auszuführen, wobei er dem obersten Tschu-Tse (Koch) begegnete, welcher in chinesischem ‚full dress‘ hereintrat, um mit lauter Stimme zu melden, daß das Mahl des Abends angerichtet sei. Yin kam sofort herbei, hing bei dem Governor ein und gab das allgemeine Zeichen, ihr zu folgen. Als sie beide an mir vorübergingen, rief er mir, indem sein Gesicht vor Wonne strahlte, zu:
„Da, schaut her, Charley! Die Wette habe ich verloren, aber meine Yin dafür gewonnen und die ganze, ganze, herrliche ‚Shen‘ dazu! Ich tausche mit keinem Menschen, nicht einmal mit Euch!“
Waller hörte das.
„Auch ich habe gewettet und verloren“, sagte er, „aber doch noch viel, viel mehr gewonnen als dieser alte, prächtige Governor! Nun werde ich wohl nach meinem Zimmer geschafft?“
Er sah Fang bittend an.
„Nein“, antwortete dieser. „Es ist bereits ein Sitz für Euch bereitet. Könnt Ihr auch nicht mit essen, so sollt Ihr doch sehen und hören und Euch mit uns allen freuen. Euer Platz ist zwischen Tsi und Miß Mary. Fu hat das so gewünscht!“
Waller verstand gar wohl, was diese Anordnung des hohen Reichsbeamten für ihn und Mary zu bedeuten hatte. Er lächelte mir unendlich glücklich zu und sagte:
„Verzeiht mir, Sir, daß ich Euch dasselbe sage wie der Governor! Ich tausche mit keinem Menschen, nicht einmal mit Euch, aber auch nicht mit ihm!“
Da wurde er fortgetragen. Wie gönnte ich ihm diese Freude!
Nun ließ ich die Gäste alle an mir vorüber und folgte erst dem letzten von ihnen, war aber dennoch nicht der allerletzte, denn unterwegs kam Tsi noch hinter mir her. Er hatte in Beziehung auf Dilkes Leiche die nötigen Weisungen gegeben und wußte, daß man nach ihnen handeln werde.
Es wurde in dem großen, vielfensterigen Raum gespeist, den man im alten Heimatschloß den Bankettsaal nannte; hier aber war er ein Blumensaal im entzückendsten Sinn des Wortes. Es wurde uns da die große Freude zuteil, die Mutter und den Oheim unserer Yin schon jetzt zu sehen. Sie hatten sich entschlossen, nicht erst bis zum letzten Tee zu warten. Raffley fragte mich, ob ich wohl gern zwischen diesen beiden sitzen möchte, und es versteht sich ganz von selbst, daß ich noch ganz besonders um diese Ehre bat.
Der Oheim war ein großer Gelehrter; aber sein Wissen war nicht nur aus Büchern, sondern noch viel mehr aus dem praktischen Leben geschöpft. Er wurde sehr bald mitteilsam bis zur liebenswürdigsten Aufrichtigkeit. Die Mutter war eine Seele. Das genügt; mehr brauche ich nicht zu sagen. Den Hauptgegenstand des Gesprächs zwischen uns dreien bildete der Ahnenkultus, und je mehr ich auch hier wieder Aufklärung über ihn bekam, desto mehr taten mir die oberflächlichen Menschen leid, die so falsche Ansichten über ihn haben. Übrigens erfuhren wir unter der Hand, daß der Ho-Schang nach Tisch das kaiserliche Schreiben überreichen werde, welches er schon in Shen-Fu hatte übergeben wollen. Er hatte die richtige Zeit hierfür wegen Dilke versäumt, und nun gebot ihm der Gebrauch, bis nach der Abendtafel zu warten. Es sollte nicht das einzige ‚kaiserliche‘ sein, welches Fu zu erhalten hatte.
Die Speisenfolge mochte bis zur Hälfte vorüber sein, da trat eine interessante Unterbrechung für uns ein. Die große, breite Tür wurde ganz geöffnet, und es kamen zwölf mit Blattgewinden und Blumen geschmückte Chinesen anmarschiert, an ihrer Spitze mein Sejjid Omar,
Weitere Kostenlose Bücher