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313 - Der verlorene Pfad

313 - Der verlorene Pfad

Titel: 313 - Der verlorene Pfad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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Geleit am Ufer versammelt hatten. Auch ihr Sohn.
    Juefaan machte den Eindruck, als wäre er nur körperlich anwesend. Der Zehnjährige stand direkt am Wasser; eisige Wellen leckten ihm über die Stiefel, färbten sie schwarz. Doch er verzog keine Miene. Wehrte sich nicht, wenn der Wind ihm die langen Haare verstrubbelte, antwortete nicht, wenn jemand zu ihm sprach.
    Manch bedauernder Blick streifte den einsamen Jungen, und so mancher Nachbar oder Freund klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter. Doch Juefaan reagierte nicht. Er starrte unentwegt geradeaus, als hinge sein Leben davon ab – und das tat es auch auf gewisse Weise.
    Ich werde einfach nicht hinsehen, sagte er sich, den Kopf gerade so weit vom Boot abgewandt, dass sein Blick sich nicht daran verfing. Und so tun, als wäre sie gar nicht da!
    Juefaan kämpfte mit aller Macht gegen die Tränen, die in seine Augen drängten. Männer weinten nicht beim Volk der Dreizehn Inseln. Es wurde als Schande angesehen, und zwar für ihre Mütter, nicht für sie. Stolze Kriegerinnen gebaren keine Schwächlinge.
    Stimmen wehten über den Strand. Einige der Trauernden diskutierten die Frage, ob Juneeda überhaupt in Wudans Reich gelangen würde, wenn man sie ohne den Segen einer Priesterin verbrannte. Seit dem verhängnisvollen Versuch einer Kontaktaufnahme mit dem Streiter hatte keine der geweihten Frauen noch die Kraft, das Ritual durchzuführen.
    Verbrennen! Juefaan zuckte innerlich zusammen.
    Normalerweise war er nicht zimperlich. Einmal hatte er bei einem Begräbnis sogar das Beten vergessen, weil er zu sehr mit Grübeln beschäftigt war. Was vermochte das ölgetränkte Stroh eigentlich auszurichten, mit dem das Boot vollgestopft wurde? Konnte es einen Leichnam tatsächlich verbrennen? Oder wurde er nur geröstet, wie Fleisch über dem Lagerfeuer? Und roch er dann auch so?
    Aber da war es auch nicht seine Mutter gewesen, die im Totenboot lag.
    Mama , dachte er hilflos. Juefaan biss sich auf die Lippen, versuchte tapfer, den Kloß herunterzuschlucken, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Wenn doch nur die quälenden Gedanken verschwinden würden, und die Bilder! Von seiner Mutter, wie sie ihn anlachte und in die Arme nahm. Von den lodernden Fackeln ringsum. Und dem gebratenen Spikkar, den Juneeda letzte Woche zu lange am Spieß gelassen hatte. Er war verkohlt und überall aufgeplatzt. Und er hatte gezischt.
    Das darf nicht mit ihr geschehen! Juefaan überkam das törichte Verlangen, seine Mutter vor diesem Schicksal zu bewahren. Er hatte keine Angst. Er war bereit, sich mit dem ganzen Volk anzulegen, um sie zu retten. Sie fortzubringen. In Sicherheit. Seine schöne, liebe Mutter.
    »Hör auf zu weinen, Schatz!«, flüsterte ihm Rebeeka zu.
    Juefaan schrak hoch, wischte sich hastig die Tränen fort.
    Rebeeka tastete in der Dämmerung nach seiner Hand, drückte sie kaum merklich. Dann wandte sie sich an das Volk.
    »Arjeela wird gleich hier sein«, sagte sie. »Ihr wisst, dass sie einen Zusammenbruch erlitten hat. Aber es ist ihr Wunsch als Priesterin und Freundin, Juneeda für die letzte Reise zu segnen. Ich werde Arjeela assistieren.«
    »Du bist nicht geweiht!«, rief jemand aus der Menge.
    »Doch, das bin ich.« Rebeeka nickte entschieden. »Auf meiner Wanderung habe ich nicht nur viel gesehen und gelernt, ich war auch eine Zeitlang in einem Kloster. Der Gott, den sie dort anbeteten, hat mir den rechten Weg gezeigt und ich wurde zu seiner Priesterin.«
    Eine ältere Frau keifte: »Wenn dieser Gott nicht Wudan war, dann reicht das nicht!«
    »Es muss reichen!«, erwiderte Rebeeka ruhig.
    Juefaan sah bewundernd zu ihr auf. Die junge Kriegerin strahlte eine Überlegenheit aus, die er auch gerne gehabt hätte! Ohne das zänkische Weib weiter zu beachten, schritt sie los. Erhobenen Hauptes, quer durch die Menge. Niemand verstellte ihr den Weg.
    Vor Juneedas Totenboot hielt Rebeeka an. »Wir verbeugen uns vor dir, große Priesterin!«, rief sie.
    Just als die Fackeln heruntersanken, erlosch das letzte Abendrot. Landeinwärts wurden Rufe laut, man möge Platz machen. Arjeela kam, auf helfende Arme gestützt, herunter zum Strand.
    Und das Ritual begann...
    ***
    Orlaando entging nur knapp einem Herzinfarkt, als aus der Dunkelheit ein glühendes Gespenst herankam.
    »Beruhige dich! Ich bin’s!«, rief Aruula dem kreischenden Jüngling zu.
    Er ließ seine Hände sinken, starrte die Barbarin aber unverändert panisch an. »Du... du leuchtest, meine Königin!«, stammelte

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