313 - Der verlorene Pfad
Rauschen des Wassers. Doch er hatte Recht: Einen Versuch war es wert.
Sekundenlang überlegte sie, ihm zu folgen. Doch was dann? Sie würde ihm da unten nicht bestehen können, und wenn sie beide ertranken, weil der Weg zu weit war, nutzte es niemandem.
Als sie sich auf den Rückweg machte, verspürte sie zum ersten Mal Bewunderung für ihren Begleiter. Auch wenn die Aktion unüberlegt und übereilt gewesen war, so bewies Orlaando doch Mut. Hoffentlich bezahlte er dafür nicht mit seinem Leben...
***
In der Nacht davor, beim Volk der Dreizehn Inseln
Dunkelheit lag über dem Land und es war still geworden im Dorf der Kriegerinnen. Nur vereinzelt drang noch Licht aus den Hütten; ein tröstlicher warmer Schein in der glitzernden Winterwelt.
Juefaan konnte nicht einschlafen. Rebeeka hatte ihm ihr Bett überlassen – sie selbst begnügte sich mit ein paar Decken nahe der Feuerstelle –, doch er fand keine Ruhe. Zu viel war geschehen an diesem Tag. Zu viele Schreckensbilder spukten in seinem Kopf herum. Von dem auflodernden Totenfeuer. Von Juneeda, die sich in den Flammen zu bewegen schien. Und von Arjeelas Tobsuchtsanfall.
Die kranke Priesterin hatte plötzlich ein Messer gezückt und blindlings auf Umstehende eingestochen. » Er kommt! Er kommt!«, hatte sie gekreischt, bis sie ohnmächtig zusammenbrach.
Tanzende Fackeln, Enge, Geschrei – von überall kamen Leute gerannt, um den Verletzten zu helfen. Juefaan hatte das Gefühl gehabt, der Einzige zu sein, der dem forttreibenden Boot noch hinterher sah. Und das machte ihm Angst, denn das Ritual verlangte, dass sich alle Augen darauf richteten.
Hatte sein Blick genügt, um das Boot der Mutter auf den Kurs zu Wudans Reich zu bringen? Oder irrte es jetzt für immer durch die Nacht, weil niemand sonst ihm nachgeschaut hatte? War es kalt, dort, wo Mutter jetzt war? Dachte sie noch an ihn?
Wie finde ich es heraus?, grübelte er.
Juefaan sah hinüber zur Feuerstelle. Rebeeka hatte sich schon eine ganze Weile nicht mehr bewegt. Nur ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Anscheinend schlief sie.
Er erinnerte sich daran, wie er Rebeeka neulich zu ihrer Wanderung befragt hatte: Wo führte sie hin, was geschah unterwegs? Und was wollte sie in einem langweiligen Kloster?
» Stille finden. In der Stille liegt die Antwort auf alle Fragen«, hatte die junge Kriegerin erwidert.
Juefaan nickte. Das ist die Lösung!
Leise schlug er seine Decke zurück, schwang die Füße über den Bettrand. Ich werde fortgehen! Irgendwo hin, wo es Antworten gibt!
Ihm war klar, dass er das nur nachts tun konnte. Kein Erwachsener würde ihm gestatten, das Dorf zu verlassen, schon gar nicht um diese Jahreszeit.
Juefaan überlegte, was er für die Reise brauchte. Es gab eine Vorratskammer in Rebeekas Hütte, gleich neben dem Eingang. Da fand er sicher etwas Brauchbares.
Ich leihe es mir nur aus, versprach er sich, während er seine Stiefel anzog. Wenn ich zurückkomme, gehe ich auf die Jagd und begleiche meine Schuld.
Juefaan trat auf den knarrenden Fußboden, schlich mit angehaltenem Atem an der Feuerstelle vorbei. Das Holz war heruntergebrannt; nur vereinzelt gab es noch Glutnester in der Asche. Ihr Widerschein holte Rebeeka aus der Dunkelheit.
Sie hatte sich im Schlaf bewegt und lag jetzt ausgestreckt auf dem Rücken. Rechts und links schimmerten ihre Kurzschwerter. Schöne, scharfe Waffen, die auch ein Zehnjähriger führen konnte, ohne dass sie über den Boden schleiften.
Eins nehme ich mit , dachte Juefaan und beugte sich vor.
Seine Finger hatten den Griff nicht ganz berührt, da schoss Rebeekas Hand hoch. Sich aufrichten und dabei das zweite Schwert über den Körper nach vorn ziehen war für die Frau eine einzige fließende Bewegung. Juefaan erstarrte, als sich die kalte Stahlspitze unter sein Kinn drückte.
»Merke es dir fürs Leben, junger Mann!«, knurrte Rebeeka. »Greife nie nach den Waffen einer Kriegerin, von der du nicht ganz sicher weißt, dass sie tot ist! Und jetzt zurück ins Bett mit dir!«
Juefaan trollte sich und war froh, noch glimpflich davonzukommen. Doch die Erleichterung darüber konnte seine dunklen Gedanken kaum aufhellen. Wieder dachte er an den Tod seiner Mutter, an die Geschehnisse am Strand, und er wünschte sich weit weg. An einen Ort, wo er in Ruhe nachdenken und wieder zu sich selbst finden konnte.
Ein Seufzen löste sich von seinen Lippen.
Ob es dieses Geräusch, auf tiefstem Herzen kommend, gewesen war, das Rebeeka plötzlich vor
Weitere Kostenlose Bücher