316 - Die Pest in Venedig
schwindelte. Früher an der Uni hatte Matt mit Fakten gearbeitet. Nun stand er unter Todgeweihten, atmete dieselbe Luft wie sie. Wie viele der Menschen um ihn herum würde es treffen? Anhand der hohen Rattenpopulation konnte er schließen, dass die Seuche – wenn es denn die Pest war und nicht die Pocken oder etwas anderes – noch an ihrem Anfang stand. Erst wenn die Ratten krepierten und ihre Flöhe sich menschliche Wirte suchten, würde hier das große Sterben beginnen.
»Schau!« Grao’sil’aana deutete auf eine hölzerne Schubkarre, die in einer engen Gasse neben einem Mietshaus an einem schmalen Kanal stand. »Da ist etwas zum Anziehen für dich.« Er ging hin und griff nach einem Hemd.
Matt fiel ihm mit beiden Händen in den Arm. »Nicht! Fass das nicht an!« Er glaubte nicht, dass sich der Daa’mure mit dem Pesterreger infizieren konnte. Sein thermophiler Körper blieb vermutlich gegenüber Viren unangreifbar. Aber er selbst konnte sich sehr wohl anstecken, falls Flöhe in der Kleidung steckten und auf ihn übersprangen. »Hier grassiert eine Seuche, Grao. Vermutlich die Pest. Wenn du mich nicht umbringen willst, lass die Finger davon!«
Grao’sil’aana zögerte kurz, mit Blick auf die Schubkarre. Dachte er in diesem Augenblick daran, wie lange sie Erzfeinde gewesen waren und einander den Tod gewünscht hatten? Der Daa’mure war zum Flächenräumer am Südpol gekommen, um Matt zu helfen, den Streiter aufzuhalten. Er hatte es nicht aus Freundschaft, sondern aus Kalkül getan. Gab er Matt die Schuld, dass sie gescheitert waren?
Laute Stimmen lenkten Matthew von Grao’sil’aana ab. Er fuhr herum und sah zwei Handwerker hinter sich, die wild gestikulierend auf ihn zeigten. Hastig blickte er zum Kanal hin – vielleicht konnten sie mit einer Gondel fliehen –, als Grao’sil’aana ihn packte und hochhob. Matt spannte seine Muskeln kampfbereit an. »Was tust du?«
»Ich weiß ja nicht viel über die Vergangenheit deines Planeten, Mefju’drex. Aber Seuchen mögen die Primärrassenvertreter gar nicht.« Der Daa’mure lud Matt auf seine Schultern. »Stell dich tot.«
»Was?« Matt spürte, wie Graos vermeintliche Kapuze länger wurde. Sie wuchs über seinen Körper hinweg, sodass sie wie ein großes Tuch seine fremdländische Kleidung verdeckte. Dabei veränderten sich Farbe und Schnitt. Sie passten sich dem Aussehen des Totenträgers aus dem überfüllten Mietshaus an.
Grao’sil’aana stapfte auf die beiden Handwerker am Ende der Straße zu. Die bekreuzigten sich und gingen schnell weiter.
»Wir müssen zu Xij«, flüsterte Matt, auf dem gebeugten Rücken liegend. »Am besten nehmen wir eine Gondel.«
»Nein. Zuerst brauchst du Kleidung. Du erwartest doch nicht, dass ich dich die ganze Zeit herumtrage, oder?«
Matt dachte nach. Jede Seuche breitete sich in unhygienischen Verhältnissen besonders schnell aus. Die Obdachlosen und Armen klagten zuerst über Schmerzen. Die Reichen besaßen im Verhältnis bessere Chancen, zumindest wenn die Seuche sich noch nicht über die ganze Stadt ausgebreitet hatte. »Bring mich in ein reicheres Viertel. Wir müssen Kleidung von Gesunden stehlen.«
Er hätte am liebsten gar nicht gestohlen, aber welche Wahl hatte er? Geld besaßen sie nicht.
Grao’sil’aana schnaufte und ging durch die Menge. Man wich ihnen aus, eine Gasse entstand.
In Matts Kopf arbeitete es auf Hochtouren. Sie mussten die Stadt verlassen oder zur Zeitblase gehen, um in ihre Zeit und den Flächenräumer zurückzukehren. Zunächst aber mussten sie Xij wiederfinden und konnten nur hoffen, dass sie noch lebte.
***
Xij überlegte, ins Wasser zu springen, doch neben den zahlreichen Ratten im Kanal graute ihr vor der Kälte. Zudem würde die Flucht nicht lange dauern; zu beiden Seiten des Kanals drängten sich bereits Menschen und starrten zu ihr und zu dem Brückenrest hinauf. Sie würde nicht weit kommen.
Xij drehte sich um. Ihre Verfolger standen am Fuß der Brücke, trauten sich nicht hinauf. Die junge Frau starrte in zum Teil schmutzstarrende, verängstigte und zugleich drohende Gesichter.
»Was werft ihr der Frau vor?«, fragte ein älterer Soldat in bunter Uniform und richtete seine Lanze auf sie. Dass man sie überhaupt als Frau identifiziert hatte, lag wohl an dem immer noch nassen Shirt, das ihr wie eine zweite Haut am Körper klebte und ihre kleinen Brüste erkennen ließ.
»Die Hexe ist aus dem Nichts aufgetaucht!«, rief ein verschwitzter junger Mann in der vornehmen
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