316 - Die Pest in Venedig
Kleidung eines Patriziers. »In der Luft über der Lagune, ich hab’s genau gesehen! Wahrscheinlich kam sie direkt aus der Hölle, denn sie hat einen Dämon mitgebracht. Und einen Hexenmeister. Ich kann es bezeugen.«
»Stimmt das?«, fragte der Soldat in Xijs Richtung.
»Ich hab’s auch gesehen«, kreischte eine zahnlose Alte. »Sie waren es, die uns das Beben gebracht haben. Und die Pest!«
Alle bekreuzigten sich erschrocken und reckten Xij Medaillons mit Heiligenfiguren und Kreuze entgegen.
Die Stimme des Soldaten klang nun nicht mehr so selbstsicher. Er fuchtelte mit der Lanze herum. »Los, komm herunter, Hexe! Ergib dich, oder wir richten dich gleich hier an Ort und Stelle!«
Xij hob die Hände und stieg langsam die Treppen hinab. »Venedig!«, seufzte sie. »Die Stadt bringt mir einfach kein Glück.«
Die Menge bestand hauptsächlich aus Händlern und Handwerkern. Es waren Kerzenzieher, Kanalreiniger, Weber – keine Nobili. Diese Leute hier kamen nicht aus Palästen, hatten vermutlich kaum Bildung und suchten ein Opfer für ihre Ängste. Von ihrer erhöhten Position aus konnte Xij gut erkennen, wie sich reichere, gebildetere Venezianer zurückzogen, die mit dieser Sache nichts zu tun haben wollten.
Wie ich dich liebe und hasse, Venedig. Aber ich will hier nicht verrecken. Nicht noch mal.
Xij sah einen Priester im langen Büßergewand neben dem Soldaten stehen. Sein Gesicht war nicht von Furcht oder Hass entstellt. »Bitte«, sagte sie laut auf Italienisch. »Ich bin nur ein einfaches Mädchen! Der Dämon hat mich entführt. Bitte helft mir, bei Maria und allen Heiligen!« Sie sah den Priester flehend an. Der Mann hatte eine scharfe Nase, seine braunen Augen wirkten verträumt, genau wie das weiche Kinn. Verunsichert trat er einen Schritt zurück.
»Sie lügt!«, schrie ein Kaufmann mit kleinen schwarzen Augen und dicker Fellmütze. »Sie ist mit dem Teufel im Bund! Das Beben hat es gezeigt!«
»Ja!«, schrie die Frau im zerschlissenen Oberkleid. »Sie wirkt Magie! Hört ihr nicht zu, sonst verzaubert sie euch!«
Xij blickte hektisch um sich. Matt und Grao’sil’aana waren fort, es gab keine Hilfe. Keiner aus der Masse schien ihr wohlgesonnen. Was kann ich nur tun? Was soll ich sagen, auf das diese Idioten hören? Sie wusste es nicht. Eilig bekreuzigte sie sich, eine halb unbewusste Geste aus einer längst vergessen geglaubten Zeit, in der sie als Francesca in Venedig gelebt hatte. Die fröhliche, mutige Francesca...
»Packt sie!«, schrie der Kaufmann. »Im Namen der Heiligen Jungfrau! Packt die Hexe!«
»Wartet!«, rief der ältere Soldat, darum bemüht, sie festzunehmen, anstatt sie dem Mob zu überlassen. Doch niemand hörte auf ihn. Bewegung kam in die Menschen. Sie stürmten vor, drängten ihn zur Seite. Der Kaufmann mit der Fellmütze war zuerst heran, packte Xij, stieß sie vor sich her. Xij taumelte unter dem Stoß. Sie sah keinen Sinn darin, sich zu wehren. Über hundert Menschen umkreisten sie. Jeder Widerstand war zum Scheitern verdammt. Er würde nur dafür sorgen, dass die Menschen noch wütender gegen sie vorgingen.
»Seid doch vernünftig!«, flehte sie. »Die dunklen Zeiten sind lang vorbei!«
»Sie spricht wie eine Nobili!«, höhnte einer.
»Dämonenhure!«, hetzte ein Zweiter. »Du hast uns die Seuche gebracht!«
Xij zitterte stärker. Natürlich, es herrschte wieder einmal irgendeine Seuche in der Stadt. Vielleicht sogar die Pest, was bedeuten würde, dass sie in das Venedig nach 1347 geraten war, denn vorher hatte die Pest den Mittelmeerraum fast sechshundert Jahre lang verschont.
Sie stolperte und erhielt einen harten Schlag in die Seite. Panisch drehte sie sich im Kreis. Zwei Gaukler grinsten sie an. Sie hielten ihre Keulen in den Händen wie Waffen.
Bleib ruhig. Du musst ruhig bleiben! Sie versuchte ihre Angst zu kontrollieren. Es gelang ihr nicht. Die vielen bösartigen Gesichter, die Rufe und der Gestank machten sie fiebrig. Schon verschwammen die ersten Gesichter vor ihr, sie fühlte sich wie ein Futtertier, das kurz davor stand, zerrissen zu werden. Denk nach! Sag etwas, das sie beschwichtigt!
Männerhände fassten nach ihr, grapschten an ihr herum. Xij verlor den letzten Rest Selbstbeherrschung. Sie schlug einem feisten Seemann ins grinsende Gesicht. Der jaulte auf und wich zurück. Andere rückten nach und fassten nun mit neuer Härte zu. Den Soldaten, der sie vielleicht hätte retten können, sah sie nicht mehr. Genauso wenig wie den Priester.
»Die Hure
Weitere Kostenlose Bücher