32 - Der Blaurote Methusalem
bereitet; er aber war reich und besaß ein sehr gutes Herz. Er bezahlte nicht nur seine Miete sehr regelmäßig, sondern ließ seiner Wirtin auch sonst manche unerwartete Einnahme zufließen. Er hatte gar bald eine herzliche Zuneigung zu den wohlgesitteten Kindern gefaßt, hörte es gern, wenn sie ihn in zutraulicher Weise Onkel nannten, und schien sich im stillen die Aufgabe gestellt zu haben, wie ein wirklicher Verwandter für ihr Wohlergehen Sorge zu tragen.
Richard, der älteste Sohn der Witwe, war ein sehr begabter Knabe. Seine Lehrer liebten ihn und rieten seiner Mutter, ihn studieren zu lassen. Leider aber war sie dazu zu arm. Das stimmte sie traurig. Sie wußte sehr wohl, daß das Handwerk einen goldenen Boden habe, doch empfand ihre Mutterliebe es mit stillem Kummer, daß sie dem Knaben nicht eine seinen Anlagen entsprechende Erziehung und Zukunft bieten könne.
Da war eines Abends der ‚Methusalem‘ zu ihr gekommen und hatte sich mit ihr über dieses Thema in seiner kurzen, bestimmten Weise ausgesprochen. Sie hatte seinen Antrag, obgleich derselbe sie mit Entzücken erfüllte, bescheiden abgelehnt; er aber hatte das vertrauliche Gespräch zum Schluß gebracht, indem er in entschiedenem Ton erklärte: „Meine liebe Frau Stein, Sie werden bemerkt haben, daß ich nicht gern von mir und meinen Verhältnissen spreche; heute will ich einmal von dieser Gepflogenheit abweichen. Mein Vater war ein reicher Brauer. Er hatte den Ehrgeiz, sich eines gelehrten und berühmten Sohnes rühmen zu wollen. Ich sträubte mich dagegen, denn ich wollte nichts andres werden, als was auch er geworden war, ein Brauer. Mein Sträuben half nichts. Ich mußte Faba, die Bohne, deklinieren, obgleich mir der Hopfen über alle Bohnen ging. Über das Weitere will ich schweigen. Der Vater verwandelte seine Brauerei in ein Aktienunternehmen und hinterließ mir ein bedeutendes Vermögen. Ich aber, habe es nur bis zum bemoosten Haupt gebracht, das heißt, zu einem akademischen Schlachtenbummler, welcher dem wirklichen Streiter verächtlich erscheint. Ich beginne nun nachgerade die ganze Leere dieses zwecklosen Daseins schmerzlich zu empfinden. Ich schäme mich meiner selbst. Ich will nicht länger ein unnützes Mitglied der menschlichen Gesellschaft sein. Ich will Taten tun, und meine erste Tat soll darin bestehen, daß ich in Ihrem Sohne Ersatz biete für meine verlorene Studienzeit. Er soll studieren, und ich zahle für ihn. Das ist das Wenigste, was ich tun kann. Und das darf Sie nicht bedrücken, denn nicht Sie werden mir dadurch etwas schuldig, sondern ich tilge eine Schuld, welche mir schwer auf dem Herzen liegt. Es ist meine Überzeugung, daß Sie kein Recht besitzen, mich mit meinem Antrag abzuweisen. Indem Sie Ihren Sohn glücklich machen, leisten Sie mir einen hohen Dienst, den ich Ihnen niemals vergessen werde. Also sagen Sie ja; schlagen Sie ein, und damit mag die Sache beschlossen und genehmigt sein!“
Seit jener Zeit besuchte Richard das Gymnasium, und der ‚Methusalem‘ wachte über ihn, wie eine Henne über ihr einziges Küchlein wacht. Dieses Küchlein war jetzt siebzehn Jahre alt geworden und gab sich alle Mühe, die Hoffnungen der Mutter und des ‚Onkel Methusalem‘ zu erfüllen.
Als der letztere jetzt eintrat mit dem Brief aus China in der Hand, fiel sein Blick auf ein Bild stillen Familienfleißes. Frau Stein war mit einer Plätterei beschäftigt. Der Gymnasiast saß tief auf eine Landkarte gebeugt, deren Linien er mit der Spitze seines Bleistiftes folgte. Seine jüngere Schwester war an der Nähmaschine beschäftigt, welche der Student ihr am letzten Weihnachtsfest beschert hatte, und der kleine sechsjährige Walther saß mäuschenstill hinter dem Ofen und mühte sich ganz ebenso mit einem Christgeschenk ab. Er hatte sich nämlich heimlich des Wichsapparates bemächtigt, um seinem ledernen Hanswurst die Stiefel blank zu machen. Das kostete ihm gar sauren Schweiß, und weil er sich die perlenden Tropfen nicht mit der Hand, sondern mit der Bürste abwischte, so hatte er bald den ganzen Inhalt der Wichsschachtel im Gesicht kleben.
Der ‚Methusalem‘ nahm sich kaum Zeit, zu grüßen.
„Frau Stein“, fragte er, „haben Sie früher einmal Obergasse 12 parterre gewohnt?“
„Ja“, antwortete sie.
„Hieß Ihr Mann Joseph Ferdinand?“
„Ja.“
„So stimmt es. Der Brief ist an Sie! Hier ist er.“
Er reichte ihr denselben hin. Sie nahm und betrachtete ihn, las die Adresse und fragte im Ton der
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