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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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ihrer Arbeit warten musste, dann konnte sie heute auch ihre Schwester Jasmin besuchen. Ihre Entweder-oder-Schwester, die kein Sowohl-als-auch aushielt; ihre Schwester, die ihre eigenen Wünsche immer nur an Dinge heftete, die unmittelbar erreichbar waren, und diese, sobald sie sie erreicht hatte, mit einer Sicherheitsnadel durchstach. Ihre Schwester, zu der kein Name weniger passte als der einer tropischen Blume – und die trotz allem ihre Schwester war.
    Ella holte ihr Telefon aus der Tasche und wählte Jasmins Nummer. Dann riss der Film.
    Zuerst nur die Geräusche: Bremsen quietschten, ein dumpfer Schlag, kurz Stille, dann Schreie von links, von rechts, dann wieder Stille. Dann die Szene: Ein Lastwagen erfasste eine Radfahrerin, riss sie vom Sattel und schleuderte sie hoch. Sie flog wie eine Puppe durch die Luft – mit krummem Rücken. Beine, Arme und Kopf schlapp nach unten hängend. Die Radfahrerin flog in Zeitlupe auf Ella zu und landete direkt vor ihr, ein Arm auf ihren Füßen. Der Aufprall auf dem Asphalt. Ella hatte nicht einmal ihren Fuß weggezogen, sie war einfach stehengeblieben. Jetzt kam ein dicker Mann im Unterhemd angerannt – mit aufgerissenem Mund. Der Lastwagenfahrer. Er starrte Ella an und fuchtelte wild mit den Armen. Links von ihr tauchte eine Frau in einem Hosenanzug auf, beugte sich über die Fahrradfahrerin, deren Arm immer noch auf Ellas Füßen lag. Auch sie schrie etwas in Ellas Richtung und machte Handbewegungen, die Ella nicht verstand. Sie blickte von einem zur anderen und schüttelte den Kopf. Es rauschte in ihren Ohren. Sie hörte die Stimmen des Lastwagenfahrers, der Frau mit dem Hosenanzug und eine ferne Sirene so gedämpft, als wäre die Straße geflutet worden und sie allein unter Wasser. Dann hörte sie plötzlich ihren eigenen Atem, laut und deutlich.
    Ella atmete schwer und schaute auf ihre Füße. Die Frau auf Ellas Füßen atmete auch. Ihr Brustkorb hob und senkte sich kaum wahrnehmbar, aber er bewegte sich. Die Frau war bewusstlos, ihr Gesichtsausdruck friedlich, obwohl schon jetzt Schwellungen und Schrammen sichtbar waren. Ihre Lippen waren dick und aufgeplatzt. Aus ihrem Ohr blutete es. Die Frau mit dem Hosenanzug war verschwunden. Während Ella sich nach unten beugte, verging eine Zeitspanne, auf die sie keinen Zugriff hatte. Sie hörte ein paar Vögel über sich zwitschern und schaute auf das Blut, das auf den Asphalt tropfte. Dann kniete Ella neben der Frau und schaute sie genau an, als müsste sie eine Vermisstenanzeige aufgeben: Mitte zwanzig, hellblond gefärbt, Fahrradkurierin. Orangefarbene Rückentasche mit schwarzem Streifen an der Seite, abgewetzte Radlerhose, kein Helm. Auf dem großen schwarzen Walkie-Talkie waren Reste eines Aufklebers zu erkennen. Unter dem enganliegenden, silbern-grau glänzenden T-Shirt blitzte ein buntes Tattoo hervor, das vom Dekolleté den Hals heraufkroch. Zuerst dachte Ella, es wäre das Ende eines Drachenschwanzes, aber es war ein Pfauenrad. Die blauen Pfauenaugen leuchteten auf der hellen Haut. Das Blut tropfte in exaktem Sekundentakt aus ihrem Ohr, als liefe ein Countdown. Zehn, neun, acht. Ella fühlte den Puls der Frau am Handgelenk, aber sie spürte nichts. Sieben, sechs, fünf. Die Frau hatte feste Waden und eine große, lange Narbe auf dem rechten Schienbein. Um Ella herum plötzlich Gemurmel, Gehupe, aufgeregte Rufe, Kindergeschrei, dann wieder Stille. Irgendjemand in ihr schien die Lautstärke mit groben Handgriffen zu regeln. Ella wurde schwindelig. Sie nahm die Hand der blonden Frau und hielt sie. Vier, drei, zwei. Jetzt stand die Frau mit dem Hosenanzug wieder neben ihr und versuchte ihr etwas mitzuteilen, das sie nicht verstand. Bild- und Tonspur passten einfach nicht zusammen. Eins. Ella hatte die Hand der Fahrradkurierin in ihrer Hand und dachte nur: Sie halten. Sie halten. Sie halten.
    Da packte jemand Ella an der Schulter und schob sie zur Seite. Ein Sanitäter. Ella setzte sich einen Meter entfernt auf den Bürgersteig und legte den Kopf in die Hände. Noch mehr Sirenen, das Kindergeschrei verstummte. Ein junger Mann kniete sich neben sie, sein Gesicht war plötzlich ganz nah und viel zu groß: »Brauchen Sie Hilfe?«
    Ella schaute ihn an, wusste nicht, was er meinte. Als er wieder kleiner wurde, nickte sie.
    »Wasser?«, fragte er.
    Sie nickte erneut.
    Er stand auf, nahm die Flasche des ramponierten Fahrrads aus der Verankerung und hielt sie ihr hin.
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Entschuldigung«, murmelte er,

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