34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
Leitung.
»Paul? Bist du noch da? Ich kann dich gar nicht verstehen.«
»Ich hab nichts gesagt.«
»Ach so.«
Schweigen.
»Gar nichts, hast du wirklich gar nichts gesagt? Nicht mal was Böses?«
»Ella…!«, rief Paul aus, doch seine Stimme begann weicher zu werden.
»Vielleicht kann ich nicht so gut an einem Ort bleiben. Wenn mein Leben zu lange stillsteht, kann ich es nicht mehr erkennen, und dann hab ich Angst, dass es sich gar nicht mehr bewegt, dass es stirbt, dass ich sterbe, und dann suche ich es ganz schnell woanders. Und schon bin ich weg. Dabei bin ich doch nur weg, um wiederzukommen. Und wenn ich’s dann wiederhab und sehe, dass es gar nicht schlapp und fahl am Haken hängt, sondern, im Gegenteil, quicklebendig ist und nur so vor sich hin zappelt, dann bekomme ich wieder so eine Lust aufs Leben und auf dich sowieso.« Pause. »Paul?«
»Ja.«
»Magst du eigentlich tintenblauen Reis?«, fragte Ella.
»Nein.«
Ella lachte erleichtert: »Das hab ich mir gedacht, deswegen hab ich dich auch nicht gleich angerufen. Das ist hier nämlich das Nationalgericht.«
»Ella? Was sollen diese ganzen Geschichten?«
Ella schwieg, dann sagte sie: »Wenn ich nicht mehr an sie glauben würde, dann hätte es ausgefunkelt.«
»Hört das je auf?«, fragte Paul.
»Und dann?«, fragte Ella.
Paul schwieg.
»Paul?«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann, Ella, und ob ich das will, weiß ich auch nicht.«
»Tust du mir einen Gefallen und entscheidest erst mal gar nichts, sondern schaust einfach mal, was passiert?«, fragte Ella und fuhr fort: »Wo bist du eigentlich gerade?«
»Im ›großen Salon‹.«
»Weißt du noch, als wir Horowitz’ alte Platten gehört haben?«
»Ella…«, unterbrach Paul sie.
»Ja, ja, ich weiß. Aber darf ich dich dann vielleicht später noch mal anrufen, morgen oder übermorgen, wenn’s grau ist und dir vielleicht ein bisschen langweilig?«
»Mach’s gut, Ella«, sagte Paul.
Dann legte er auf, ging noch ein letztes Mal durch Horowitz’ Wohnung, drehte die Heizungen aus, packte seine Sachen und ging in die Küche, um den Kühlschrank zu leeren. Dort goss er sich ein letztes Glas Wein ein. Neben sich auf dem Boden eine Tüte mit zerrissenem Geschenkpapier. Gleich würde er zurück in seine Wohnung fahren. Und dann?
Er trank das Glas aus, und während er es abwusch überlegte er, was er sich jetzt am meisten wünschen würde. Und plötzlich fing es in ihm an zu funkeln, erst matt noch, wie durch eine dicke, verregnete Scheibe hindurch, aber dann immer deutlicher. Wünschen ist ansteckend, hatte Ella mal gesagt, und jetzt wusste er auch, was sie damit gemeint hatte. Er würde jetzt nach Hause fahren, und irgendwann würde sie wieder auftauchen, ihr Arm würde seinen Arm berühren, ihr Fuß seinen Fuß und ihre Schulter seine Schulter. Genau das wünschte er sich jetzt, auch wenn es ihn an die Grenzen seiner Vorstellungskraft trieb oder vielleicht gerade deswegen.
Bücher aus Horowitz’ Bibliothek:
Herman Melville, Moby Dick
Jules Verne, 20000 Meilen unter dem Meer
Joseph Conrad, Taifun, Zwischen Land und See und Jugend
Jules Michelet, Das Meer
Victor Hugo, Die Arbeiter des Meeres
Daniel Defoe, Robinson Crusoe
Ernest Hemingway, Der alte Mann und das Meer
Friedrich Nietzsche, Gesammelte Werke
Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer
Bernhard Blume, Existenz und Dichtung (Wasser, Insel, Schiffbruch)
Joachim Sartorius (Hg.), Für die mit der Sehnsucht nach dem Meer
Durs Grünbein, Die Bars von Atlantis
Scott Huler, Die Sprache des Windes
James Hamilton-Paterson, Vom Meer
Alessandro Baricco, Oceano Mare
Manfred Gsteiger (Hg.), Schiffe in der Weltliteratur
Hartmut Böhme (Hg.), Die Kulturgeschichte des Wassers
Hannah Bader, Gerhard Wolf (Hg.), Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation
Sindbad, der Seefahrer
Amy Lovell, »Verwundertes Glimmen«
Bücher aus Ellas Regal:
Charles Lewis Meryon, Memoirs of the Lady Hester Stanhope
Marie Seurat, Mein Königreich des Windes. Das Leben der Lady Hester Stanhope
Dorothy Parker, New Yorker Geschichten (mit einem Vorwort von Elke Heidenreich)
John Keats, The Life and Times of Dorothy Parker
S. T. Brownlow, The Sayings of Dorothy Parker
Ingeborg Bachmann, Undine geht
Zora Neale Hurston, Ich mag mich, wenn ich lache und Und ihre Augen schauten Gott
Joan Didion, Das Jahr magischen Denkens und Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben
Über den Autor
Annika Reich
Geboren 1973 in München, lebt heute in
Weitere Kostenlose Bücher