34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
das den hinteren Teil des mit Büchern und Meeresfundstücken gefüllten Raums einnahm. Er zog die schweren, staubigen Vorhänge zu und dachte an das sommerliche Wochenende vor ein paar Monaten, an dem Ella und Horowitz ihre Wohnungen getauscht hatten. Es war das Wochenende nach dem ersten Kuss, das Wochenende von Natalias Unfall, das Wochenende, an dem so viel passiert war wie die ganzen Monate zuvor nicht.
2
Freitagmorgen. Ella ging gleich nach dem Duschen aus dem Haus, um einen Kaffee in dem kleinen Laden an der Ecke zu trinken, in dem die Gäste damit beschäftigt waren, der schönen Schwedin beim Schäumen der Milch zuzusehen. Einige blieben so lange, dass sie zu spät zur Arbeit kamen, andere verliebten sich heillos und kamen nie wieder.
Ella saß auf der kleinen Fensterbank mit blauweiß gestreiften Kissen, trank ihren Kaffee und dachte an gestern Abend. Paul war nach dem ersten Kuss gegangen. Kaum hatten sie sich vor ihrer Haustür geküsst, hatte er sich umgedreht, war in sein Auto gestiegen und abgefahren. Einfach so. Es hatte nicht wie ein Spielchen gewirkt, sondern eher wie neunzehntes Jahrhundert.
Die Schwedin ging nun quer durch den Raum, ihre langen Arme schlackerten um ihre schmale Taille, und die vielen dünnen Armreifen klimperten dabei. Der ganze Laden hielt den Atem an. Ella schaute sich um. Die Stimmung hier war wie für sie gemacht, sie konnte ein bisschen mitknistern und war nicht gemeint. Sie las eine Zeitschrift, beschloss, sich nicht bei Paul zu melden, trank ihren Kaffee aus, winkte der Schwedin und ging hinaus. Zwei Männer stolperten mit verklärtem Blick hinter ihr aus der Tür, hielten inne, warfen einen erschrockenen Blick auf ihre Armbanduhren und eilten davon.
Ella schlenderte zurück nach Hause und überlegte auf dem Weg, was sie mit ihrem freien Tag anfangen sollte. Vier Wochen waren seit dem Ende ihres Studiums vergangen, vier lange Wochen. Ihre neue Arbeit beim Radiosender würde am Montag endlich beginnen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie sofort angefangen, aber das hatte nicht geklappt. Wenn sie studierte oder arbeitete, waren die Ziele klar, aber wenn sie nichts zu tun hatte, dann ließ sie sich so ausgiebig vom Weg abbringen, dass sie manchmal abhandenkam.
Nun stand das letzte arbeitslose Wochenende bevor, und dass Paul sie gestern Abend vor dem Haus stehengelassen hatte, machte es nicht leichter. Paul, der so wohlproportioniert und zielstrebig wirkte, der schon morgens zu wissen schien, was der Abend brachte, und abends, wie der nächste Morgen aussah. Dieser Paul, der Tag und Nacht in Verbindung bringen konnte wie kein anderer, hatte den gestrigen Abend einfach in vollem Lauf abgebrochen.
Ella stand vor einem kleinen Blumenladen, als sie den Chef des Cafés bemerkte. Er fuhr mit dem Fahrrad an ihr vorbei, eine Kiste mit Croissants auf dem Gepäckträger, und rief: »War gestern bei deiner Schwester in der Praxis, mir tut immer noch alles weh. Ist ’ne harte Nummer, deine Schwester.«
Ella lachte, zuckte mit den Schultern und winkte ihm hinterher.
Ihre Schwester. Früher konnte Ella sich an den Zielen ihrer Schwester ausrichten, dann wusste sie wenigstens, was sie nicht wollte. Doch das war irgendwann vorbei. Danach hatte das Studium die Orientierung übernommen, sie hatte dieses ernsthafter betrieben als die meisten ihrer Kommilitoninnen und immer ihr eigenes Geld verdient, nie auch nur einen Pfennig von ihrer Mutter angenommen. Die meisten Leute, die sie aus dem Studium und ihren diversen Jobs kannten, waren erstaunt über ihr haltloses Privatleben, und die meisten, die sie nie bei der Arbeit erlebt hatten, trauten ihr nicht zu, auch nur einmal pünktlich in der Vorlesung oder am Arbeitsplatz zu erscheinen.
Und so hatte sie nun vier Wochen lang versucht, sich nicht zu viel herumzutreiben und sich stattdessen ihr künftiges Leben auszumalen: wie sie Reportagen, Porträts und Hörspiele schreiben und wie ihre Stimme im Radio klingen würde; wie sie vom Sender zu Paul fahren und ihm erzählen würde, was sie alles Neues gehört hatte, und wie Paul ihr ins Ohr flüstern würde, dass er ihre rauhe Stimme mochte; wie er sich ihre Geschichten anhören und sie ihm ihr Leben erzählen würde – in immer neuen Versionen, bis es sich gut anhörte, bis es zu ihr passte und anders war als das, in das sie hineingeboren war, anders als das, was ihre Mutter ihr vorgelebt, und auch anders als das, was ihre Schwester gewählt hatte.
Wenn sie sowieso auf den Beginn
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