40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
Hungers sterben lassen.
SIMONE WEIL, Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen
Fünfunddreißigster Tag, 5. Oktober
78,2 KILOGRAMM
Ich nehme nicht mehr ab! Seit vier Tagen wiege ich 78,2 Kilogramm. Lichtnahrung?
Der Besuch ist gegangen, es könnte Ruhe einkehren. Aber nein. Hund Timmy hat zum Schluss unseren Hahn Otto totgebissen und zum größten Teil verspeist. Köterkotze, gespickt mit Federn auf den Küchenfliesen verrieten ihn.
Nach der Tanzeinlage gestern waren meine Mitbewohner nicht so gut auf mich zu sprechen. Und jetzt das. Ich kaufe morgen einen neuen Hahn. Aber damit mache ich auch nichts wieder gut. Der Hahn stehe symbolisch für meinen Egoismus. Ich sollte mich jetzt wahrscheinlich schämen. Geht aber nicht, weil ich mir überhaupt keine Gefühle mehr leisten kann. Nicht bei 78 Kilogramm. Das spreche ich aber lieber nicht laut aus.
Ich ahnte schon, dass meine Wohnsituation unter dem Fasten und meinem damit verbundenen persönlichen Rückzug leiden würde. Tja, wer extreme Erfahrungen sammeln will, muss mit extremen Reaktionen rechnen, sagt Gabi.
Heute war der letzte Arbeitstag in meiner Fastenzeit. Es geht nicht mehr. Ich habe mich für die kommende Woche abgemeldet, muss mich bis Freitag zurückziehen. Auch weil ich das Gefühl habe, es müsse noch etwas passieren. Das kann es noch nicht gewesen sein. So einfach kann ich doch nicht wieder durchkommen.
Es ist übrigens nicht so, dass man nach 35 Tagen Fasten keine Pickel mehr hätte. Mir wächst etwas auf der Wange – eine Adventskerze. Dafür fühlt sich aber meine Haut insgesamt sehr viel weicher an. Meine Haare sehen auch anders aus. Voller und dunkler.
Ich renne zurück ins Bad. Kann das sein? Dass meine grauen Haare weg sind? Tatsächlich. Meine Schläfen sind nicht mehr grau. »Jeûner«, sag ich da nur.
Ich radle wieder zu Rewe und hole mir einen Sanddornsaft. Hauptsache exotisch. Während ich draußen mein Fahrrad abschließe, beobachte ich wieder heimlich Menschen beim Essen. Dieses Mal am Gockelgrill. Nicht nur, dass diese armen Viecher unter perversen Bedingungen aufwuchsen. Jetzt werden sie auch von Perversen gegessen. Es ist viel angesagter, den letzten Dreck zu fressen, als gar nicht zu essen. Es ist auch viel leichter, sich zu Tode zu fressen, als zu verhungern. Das war für uns Menschen hier mal anders.
Bei uns – also in den westlichen Industrieländern – zählt die Vielfalt. Theoretisch muss alles auf den Teller kommen. Der Allesesser gilt als unkompliziert. Wer hingegen auf bestimmte Nahrungsmittel verzichtet, den betrachtet die Gesellschaft als »schwierig« oder sogar als »unsozial«. Wer keine Kohlenhydrate isst oder keine Milchprodukte, wird als »zickig« abgestempelt – Frauen. Männer gelten als schwul. Anderen Nahrungsgepflogenheiten gegenüber sind wir toleranter als jede Kultur vor uns. Aber wehe, jemand verweigert bestimmte Lebensmittel – oder er verweigert Nahrung überhaupt …
Sechsunddreißigster Tag, 6. Oktober
Der sogenannte Gesunde soll fasten! Sein jährliches, ehrliches Fasten soll ihn vor Krankheit und Siechtum bewahren! Er soll nicht warten, bis die Vorboten des Todes kommen, die Krankheiten. Dieses jährliche Fasten aber soll ihm eine heilige, mit Betrachtung und Besinnung ausgefüllte Zeit sein, in der er heilsame Entschlüsse fasst, die dann der ganzen Zwischenzeit bis zur nächsten Fastenperiode zugutekommen.
DR. OTTO BUCHINGER, Das Heilfasten 10
Sechsunddreißigster Tag, 6. Oktober
78,0 KILOGRAMM
Ich scheiß auf heilige Besinnung, hatte heute einen Wutanfall, bin vollkommen ausgeflippt, Tobsucht wie noch nie in meinem Leben. Konnte mal wieder nicht schlafen, fuhr um halb acht zu Gabi, Überraschungsbesuch. Sie sagte aber, sie könne gerade gar nichts mit mir anfangen, sie habe schon andere Pläne (unter anderem Putzen). Also bekam sie all meinen Frust der vergangenen Wochen ab. Ich schmiss Bücher gegen die Wand, eine Kaffeetasse quer durch die Küche und brüllte sie so an, dass ich den Nachbarn nie wieder in die Augen schauen kann.
Eine uralte Wut über Nicht-willkommen-Sein und Ablehnung schoss aus mir heraus. Ich schrie, wieso hier keine Sau flexibel sei, warum alle immer nur ihrem Kopf folgten, nie spontan seien, immer nur ihren Drecksplänen gehorchten. Alles halb tote Arschlöcher um mich rum. Ich brüllte, bis ich heiser war, keine Bücher mehr zum Schmeißen hatte und schließlich erschöpft zusammenbrach.
Die Wut platzte aus mir heraus, als wäre ein Damm
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