40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
Unvollkommenheiten der Welt zu lösen. Mein Freund beantwortet diese Ausführungen mit einem Schweigen. Wir legen auf und werden vermutlich so schnell nicht wieder miteinander telefonieren. Ich verliere neben meinen Pfunden auch Freunde in zweistelliger Zahl, wenn das so weitergeht.
Ich habe gekocht. Ein befreundetes Ehepaar ist mit seinen Kindern und Terrier Timmy zu Besuch. Irgendwie ist die Pflicht, ein guter Gastgeber zu sein, sehr tief in mir verwurzelt. Also habe ich eine asiatische Reispfanne mit Gemüse auf den Tisch gezaubert. Ohne abzuschmecken. Sehr lecker, wurde mir gesagt.
Es fällt mir deshalb heute sehr schwer, nichts zu essen. Essen ist die Basis schöner Geselligkeit. Genau wie Kaffee, Rauchen und Knabberzeug. Wenigstens in meinem Kopf ist dieses Gesetz auf jeden Fall tief verankert.
Meine Freunde hätten ihren Besuch hier oben an der Ostsee vom Wetter her ungünstiger nicht wählen können. Am Abend vor dem Fasten lag ich hier noch mit Gabi am Strand. Und jetzt, 32 Tage später, wandere ich mit vier Jacken ausgestattet, Handschuhen und Wollmütze durch den Regen. Dabei ist Oktober, und er müsste golden sein! Diese anhaltende Kälte macht meinem fastenden Organismus am meisten zu schaffen. Ich könnte den ganzen Tag in einer 100 Grad heißen Sauna liegen.
Vierunddreißigster Tag, 4. Oktober
Fasten führt zu einer tiefen Verbundenheit mit sich selbst, mit anderen Menschen und mit der Natur, deren Luft wir atmen, deren Wasser wir trinken, die uns ernährt, von der wir also leben.
NIKLAUS BRANTSCHEN, Weg der Stille. Orientierung in einer lärmenden Welt 9
Vierunddreißigster Tag, 4. Oktober
78,2 KILOGRAMM
Komisch, kein Gramm abgenommen. Macht Kochen allein schon dick? Die alte Theorie Übergewichtiger scheint sich zu bestätigen.
Meine Zähne weisen einen Belag auf, der an Mörtel erinnert. Auch wenn ich sie fünfmal am Tag putze, sind insbesondere die Backenzähne mit einer rauen Schicht belegt. Das Zahnfleisch ist weiß und alles andere als rosig-gesund. Dafür ist meine Zunge weniger fleckig.
Was für ein schöner Tag. Das Haus ist voll. Es sind zwei weitere Freunde vorbeigekommen, dazu mein großer Bruder mit Frau und Bekannten. Und ich bin gesellschaftsfähig. Gabi blüht auch wieder auf und küsst mich jedes Mal, wenn sie mich sieht.
Heute Abend veranstalten wir eine kleine Party. Einfach nur alte Musik aus unseren wilden Jahren und Tanzen. Luftgitarristen und Ausdruckstänzer zappeln wild zu AC/DC, Chico Trujillo und Genie & Handwerk. Auch ich mache mit. So lebendig, ausgelassen und wohl habe ich mich seit Wochen nicht mehr gefühlt. Tanzen befreit, Singen macht glücklich. Und das mit Menschen, die mich besser kennen als jeder andere und bei denen ich mich genau so, wie ich bin, wohlfühle. Keiner spricht über das Fasten. Wieder stelle ich fest, dass echte Freunde alles akzeptieren – auch Veränderungen.
Heute war alles anders. Es gibt hierfür keine Erklärung. Ich freute mich auf den Besuch, war gesprächig, gesellig, gelassen und »ganz der Alte«, sagte mein großer Bruder.
Als es dunkel ist und alle im Bett liegen, bin ich natürlich immer noch hellwach. Ich schleiche mich nach draußen, lege mich aufs Feld und blicke in die Sterne. Und da wird es mir endgültig klar: Wir werden von einer Urkraft getragen, die alles zusammenhält, jedes Molekül, jedes Wesen, unser Sonnensystem und das Universum.
Bei der nicht vorstellbaren Unendlichkeit stellt sich wieder die Frage »Wer bin ich?«. Ich kann nicht sagen, dass ich nichts bin. Ich bin auch nicht alles. Irgendetwas dazwischen. Oder beides? Wir sind einfach. Mehr nicht. Ich bin. Und es ist schön, zu sein. Egal wer und warum.
Auch wenn das jetzt noch so hochgestochen klingt: Ich kann diese Erkenntnisse nicht für mich behalten. Erst wenn mein Verstand das Mysterium akzeptiert und jede Faser meines Körpers es gespürt hat, hört die Frage nach dem Wer und dem Warum auf, und es kehrt Ruhe ein.
Draußen krümmt sich die Große Bärin und nickt ergeben.
Fünfunddreißigster Tag, 5. Oktober
Der ewige Teil der Seele nährt sich von Hunger. Wenn man nicht isst, verdaut der Organismus sein eigenes Fleisch und verwandelt es in Energie. Die Seele ebenfalls. Die Seele, die nicht isst, verdaut sich selbst. Der ewige Teil verdaut den sterblichen Teil der Seele und verwandelt ihn. Der Hunger der Seele ist hart zu ertragen, aber es gibt kein anderes Heilmittel für die Krankheit. Bei lebendigem Leibe den vergänglichen Teil der Seele
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