Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte

Titel: 40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timm Kruse
Vom Netzwerk:
tue.
    Ich spüre jede Faser meines Körpers. Ich hätte natürlich nicht sagen können, dass es die Bauchspeicheldrüse ist, die mir solche Schmerzen bereitet, konnte aber die schmerzhafte Region genau verorten und beschreiben. Mein Körper kommt mir wie durchsichtig vor. Wenn ich die Augen schließe, kann ich ihn Schicht für Schicht »abscannen«.
    Ich habe noch nicht einmal richtig Angst. Kürzlich kam die Meldung, dass eine Frau in Russland den freien Fall aus 2000 Metern Höhe überlebt haben soll. Ihr Fallschirm öffnete sich nicht, und sie landete in einem Moorgebiet. Nicht einmal ernsthaft verletzt war sie. Ich würde so gerne wissen, ob sie Angst hatte. Wenn man den sicheren Tod vor Augen hat, empfindet man keine Angst, oder? Oder?
    Bin ich dem Tod so nahe, dass auch ich keine Angst mehr habe? Bin ich dem Körper so weit entrückt, dass ein Austritt aus der Hülle mich kaltlässt?
    Als Sokrates vergiftet wurde, hat er angeblich bei vollem Bewusstsein ruhig verfolgt, wie sich das Gift langsam in seinem Körper verteilte und ihn umbrachte. Er hat es einfach geschehen lassen. Aus heutiger Sicht ist das auch egal, ist ja schon ewig her.
    Nichts zählt. Außer der Moment.

Neununddreißigster Tag, 9. Oktober
Ein Mensch von 1,70 m Größe und 70 kg Gewicht verfügt rechnerisch über 10 kg Fett. Diese Reserven reichen bei einem täglichen Verbrauch von 2500 kcal etwa 42 Tage. Das decke sich mit der Faustregel, nach der ein Mensch in Extremsituationen etwa 40 Tage ohne Nahrung überleben kann.
PATER KILIAN SAUM, Fasten nach der Klosterheilkunde 12
    Neununddreißigster Tag, 9. Oktober
    77,7 KILOGRAMM
    Mein letzter ganzer Fastentag. Fazit? Noch liegt ein ganzer Tag vor mir. Außerdem sind die Schmerzen weiterhin da. Gerade im Liegen tut mein Bauch sehr weh. Auch im Sitzen zieht es. Aber ich bin überzeugt, dass es aufhören wird, wenn ich wieder esse. Kein Interesse, Panik zu schieben.
    Wieder habe ich nur ein paar Stunden geschlafen. Sitze seit fünf Uhr früh auf meinem Kissen vor dem offenen Fenster und freue mich über die dunkle Welt da draußen.
    Durch das Fasten ist mir die unglaubliche Allmacht des großen Ganzen nähergekommen. Wie konnte ich je daran zweifeln, Teil von allem zu sein?
    Die wichtigste Einsicht: Für Kummer gibt es nur zwei Ursachen: Entweder wir bekommen nicht, was wir wollen, oder wir bekommen, was wir nicht wollen. Ohne Wollen gäbe es keinen Kummer. Wunschlos glücklich zu sein ist also doppelt gemoppelt. Glück gibt es nur ohne Wünsche.
    Auch nicht ganz unwichtig: Fasten ist auf Dauer tödlich. Keine Nahrung zu sich zu nehmen bedeutet für den Organismus früher oder später das Ende. Irgendwann würde auch ich mich so zu Tode bringen. Obwohl das mit Säften, Buttermilch und Gemüsebrühe noch Monate dauern würde. Da bin ich mir ganz sicher. Trotzdem sind diese 40 Tage eine absolute Grenzerfahrung. Erst jetzt erscheinen mir unser Leben und unsere Welt als absolutes Paradies. Es ist eine Gnade, dies alles erleben zu dürfen. Und der Tod? Eine Transformation. Mehr nicht.
    Da ist dieser Zellhaufen Mensch, der wundersamerweise Sinnesorgane hat, über die er die Welt erleben darf. Dazu kommt, dass er auch noch über sich selbst nachdenken kann. Er kann reflektieren. Das ist es, was wir den Tieren voraushaben. Und es ist diese Fähigkeit, die uns leiden lässt.
    In diesem Moment bin ich der festen Überzeugung, dass ich nie wieder jammern oder mich beschweren werde. Alles Klagen ist künstlich, ist rein subjektiv, ohne Grund und ohne Boden. Und alles Geheul, Geschrei und Gewinsel geht vorbei. Das finde ich sehr, sehr tröstlich.
    Wer bei der Fülle, die diese Welt bietet, jammert, ist selbst schuld. Vielleicht jammere ich aber schon morgen darüber, dass das Fasten vorbei ist, und habe dann das Gefühl der Dankbarkeit längst vergessen.
    Ich wollte Erleuchtung, wollte das Leiden abschütteln. Im Grunde war ich auf der Suche nach dem Paradies. Ich glaube, ich habe es gefunden. Es ist direkt vor meiner Haustür, und ich habe es nie gesehen.
    Das Wetter ist gut. Draußen wartet Gott oder sonst etwas. Aber ich bleibe in meinem Zimmer, habe das Telefon abgestellt, will den letzten Tag in Ruhe und Stille verbringen. Neben dem Paradies draußen gibt es das Paradies in mir. Seitdem ich dieses Paradies sehe, kann ich es auch draußen erkennen. Die Welt ist, wie wir sie sehen.
    Es ist mehr ein Gefühl, ganz subtil und scheinbar flüchtig. Eindrücke davon signalisieren dem Verstand, dass es mehr gibt,

Weitere Kostenlose Bücher