5 1/2 Wochen
steht mehr rum, was hier nicht reingehört. Auf dem geschrubbten Tisch ist liebevoll ein Frühstück vorbereitet. Frischer Tee ist gekocht. Mit strahlenden Augen und einem Geschirrtuch über der Schulter begrüßt Gordon mich gut gelaunt.
Über seinen gestrigen Annäherungsversuch sprechen wir nicht mehr. Noch nie fand ich das Sprichwort „Schwamm drüber“ so treffend. Uns würde auch nach Stunden noch nicht langweilig, aber ich habe heute 27,4 Kilometer vor mir und mach mich gegen halb neun vom Acker. Gordon lässt es sich nicht nehmen, mich noch ungefähr einen Kilometer aus dem Dorf heraus zu begleiten. Er gibt mir mit auf den Weg: „Lass Dich nicht unterkriegen von den letzten hundert Kilometer. Sie werden ganz anders sein, als Dein bisheriger Camino. Ab jetzt sind deutlich mehr Pilger unterwegs, die nur die geforderte Strecke laufen, um die Compostela zu bekommen. Die sind ganz anders drauf, hatten ja noch keine Zeit oder haben prinzipiell kein Interesse daran, inneren Frieden und Gelassenheit zu finden.“
Zum Abschied umarmen wir uns herzlich und tief berührt. Selten habe ich eine Umarmung als so ehrlich empfunden. Er guckt mir offen und tief in die Augen: „Danke, dass Du bei mir übernachtet und mir vertraut hast. Das werde ich nie vergessen. Ich habe lange nicht mehr so viel gelacht.“ „Ich bin die, die sich bedanken möchte. Hättest Du mich nicht aufgenommen, wäre ich heute Morgen im Straßengraben wachgeworden. Außerdem hast Du mich vor dem Hungertod bewahrt. Ich werde Vilachá nie vergessen, ich kenne dank Dir schließlich das ganze Dorf. Ich wünsche Dir viel Kraft und Durchhaltevermögen beim Aufbau Deiner Herberge und viel Spaß mit den Pilgern, die zukünftig bei Dir übernachten werden. Ich glaube, ich werde den Camino Francés noch einmal gehen und dann bei Dir einkehren.“ Mit einem Küsschen auf die Wange trennen sich unsere Wege. Immer wieder drehen wir uns um und winken uns nochmal zu. Gäbe es eine Bar in der Nähe, würde ich gerne noch einen Café con leche mit ihm trinken, um den Abschied noch ein bisschen hinauszuzögern. Ich glaube, wir sind so was wie Seelenverwandte.
Die zweieinhalb Kilometer runter nach Portomarín haben es wirklich in sich. Das ist wieder so eine Straße, die besser als Treppe zur Welt gekommen wäre. Die Federung in den Knien muss schon gut in Schuss sein! Der Blick auf Portomarin mit dem davorliegenden Stausee ist ein Traum. Die kleine Stadt hat 2237 Einwohner und ist voller Leben. Genau genommen ist es eine versunkene Stadt. Das alte Städtchen Portomarin fiel dem Bau eines Wasserkraftwerks zum Opfer. Es verschwand unter den Fluten des Belesar-Stausees. Die Bauwerke von historischem, kulturellem Interesse wurden aber glücklicherweise gerettet und in die Anfang der 1960er Jahre erbaute neue Stadt versetzt. Es ist ein seltsames Gefühl auf diesen großen See zu schauen und sich vorzustellen, dass auf seinem Grund eine ganze Ortschaft steht.
Ohne meinen heißgeliebten Café con leche kann ich mich nicht in die Büsche schlagen. Bis Gónzar sind es acht Kilometer und für die muss ich mich vorher stärken. Das große Café ist tatsächlich voll mit
Pilgern, die ganz anders sind. Sie sehen mehr aus, wie Campingplatz- Bewohner, die auf dem Weg ins Freibad sind. Der Rucksack ist kleiner und ihre Demut auch. Naja, sie haben eben keine 800 Kilometer vor sich, sondern nur drei oder vier Etappen zu laufen. Da braucht man nicht viel Kram und macht sich auch kaum Gedanken darüber, ob man an seine Grenzen stößt. Oder doch? Hätte mir vor fünf Wochen jemand gesagt: „Lauf mal eben 100 Kilometer, wären sie für mich auch noch deutlich gewaltiger rübergekommen als jetzt, nach fast 700, mit meinen eigenen Füßen, bezwungenen Kilometern.
Kurz hinter Portomarín steht auf einem Parkplatz ein Reisebus mit offenen Gepäckraumklappen. Ich schätze, dass so um die fünfzig Menschen damit beschäftigt sind, ihre Rucksäcke zu identifizieren und fachgerecht auf den Rücken zu schnallen. Einige essen hastig das wohl letzte Stückchen Obst ihres Lebens. Manche trinken, mit weit aufgerissenen Augen und Blick in Richtung Startpunkt Camino, so gierig aus Wasser- und Saftflaschen, als wären sie jetzt schon total ausgetrocknet. Sie reden viel zu laut und laufen wirr durcheinander. Eine Schlagzeile in einem Revolverblatt würde wohl lauten: REISEBUS SETZT PILGER AUS! Aus sicherer Entfernung schaue ich mir das Schauspiel unbemerkt an.
Zwei Reiseführer erklären dem
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