5 1/2 Wochen
entsetzt darüber, wie einer denken kann, ich würde mich fahren lassen, lehne ich das natürlich ab. Er macht mir klar, dass der Weg zwar kurz, aber ganz heftig steil bergab geht und er den Eindruck hat, dass ich das nicht mehr schaffe. Er ist selbst viermal den Camino gelaufen und weiß, wie es ist, wenn einen am Ende des Tages die Kräfte verlassen. Während des Gesprächs habe ich immer intensiver das Gefühl, mich mit einem „aktuellen“ Pilger zu unterhalten. Normalerweise frage ich einen Einheimischen bei einer kurzen Unterhaltung auf der Straße nicht nach seinem Namen, aber dieser Fall liegt anders.
Gordon ist 60 Jahre alt und ein witziger Typ. Er bringt mich problemlos immer wieder zum Lachen. Wir stehen so ungezwungen an sein Auto gelehnt, dass man meinen könnte, wir kennen uns bereits seit Jahren. Ich bitte ihn, für mich in Portomarin ein Zimmer zu reservieren. In diesem Moment kommen zwei Señoras vom Hof gegenüber zu uns und begrüßen mich genauso herzlich wie vor wenigen Minuten Gordon es getan hat. Eine der beiden Frauen arbeitet in einem Hotel in Portomarín und macht mir die entsetzliche Mitteilung, dass im ganzen Ort kein einziges Bett mehr frei ist. Wie bitte? Und jetzt? Dann muss ich heute noch mindestens zehn Kilometer zurücklegen und hoffen, dass sie mich in der Herberge in Gónzar mit Hund überhaupt nehmen. Unmöglich!
Gordon will mich retten und bietet mir tatsächlich an, bei ihm zu übernachten. Er hätte sowieso vor, nächstes Jahr eine Herberge zu eröffnen, dann wär ich eben sein erster und vorerst einziger Pilger- Gast. Mit ungläubigen Augen und völlig verunsichert sage ich: „Nein, das kann ich nicht machen. Wir kennen uns doch gar nicht. Was sagt denn Deine Frau zu dieser Idee?“ Er hat keine Frau. Er lebt allein auf diesem Hof und meint sein Angebot sehr ernst. Hilfesuchend wende ich mich den beiden Nachbarinnen zu. Die lachen unbekümmert und geben mir zu verstehen, dass ich bleiben solle.
Nach langem Zögern und Sich-zieren lasse ich mich zumindest mal darauf ein, dass er mir das Zimmer zeigt, in dem ich schlafen könnte. Die beiden Frauen gehen mit ins Haus. Was mich da erwartet, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausmalen können. Gordon wohnt in einer Ruine. Dieses ziemlich große Haus ist mindestens tausend Jahre alt. Die waagerecht-zweiteilige Eingangstür erinnert an einen Pferdestall. Der Lehmfußboden ist uneben, die Wände schief und die Ecken rund. Ich habe so ein Haus noch nie gesehen. Überall stehen Sachen rum, die eigentlich in Kellern, Garagen oder Scheunen aufbewahrt werden. Über eine schiefe steinerne Treppe gelangen wir ins obere Stockwerk. Bei jedem Schritt gibt der Boden nicht nur nach, sondern ächzt auch noch laut unter unserer Last. Ich habe Angst einzustürzen. Immerhin betreten wir nun den ersten Raum, der wenigsten annähernd Hinweise darauf gibt, dass hier überhaupt jemand wohnt. Sehr, sehr karg, mit wenigen zusammengewürfelten, uralten, schäbigen Möbeln bestückt, stellt sich Gordons Wohn-Schlaf- gemach dar. Alles ist überhäuft mit Büchern und Blättern, Kleidern und Schuhen. Ich trau mich gar nicht, genauer hinzusehen.
Von hier aus gelangen wir in ein riesiges Zimmer mit Spitzdach. Es ist im Gegensatz zum Rest des Hauses sehr übersichtlich. Ein übergroßes Bett und ein kleines Nachtschränkchen ergeben die Einrichtung. Die uralten Holzdielen singen bei der kleinsten Bewegung ein Lied aus längst vergessenen Zeiten. Ich bin fasziniert, von Gordons Freude darüber, mir helfen zu können. Rat- und ahnungslos wie ich aus dieser Nummer wieder rauskommen könnte, springt Ruddi mit Anlauf auf das Bett und schläft schon vor dem Aufschlag.
Empört will ich ihn runter scheuchen. Gordon stellt sich mir aber in den Weg: „Wenn Dein Hund sich hier sicher fühlt, was hält Dich dann davon ab, zu bleiben?“ Mir fallen die Krafttiere wieder ein, die mir heute Morgen schon gesagt haben, dass ich im Hier und Jetzt leben, Geben und Nehmen ins Gleichgewicht bringen soll, neue Erfahrungen und Situationen erleben werde. Ich begegne ausnahmslos Menschen die es gut mit mir meinen. So kommt es, dass ich als Pilger privat bei einem mir völlig unbekannten Mann in einem mehr als baufälligen Haus übernachte.
Als ich meinen Rucksack endlich vom Rücken auf die Holzdielen rutschen lasse, führt Gordon einen Freudentanz auf. Es ist fast so, als ob ich ihm aus der Patsche helfen würde und nicht umgekehrt. Den Señoras geht ebenfalls
Weitere Kostenlose Bücher