5 1/2 Wochen
außer Kontrolle geratenen Haufen das Wichtigste zum Jakobsweg. „Achtet unbedingt peinlichst auf die gelben Pfeile, Schilder mit der abgebildeten Jakobsmuschel und die Kilometersteine, damit Ihr nicht vom Weg abkommt. Bleibt möglichst mindestens zu zweit; falls was passiert, kann einer Hilfe holen. Einer von beiden sollte jeweils ein Handy griffbereit haben. Esst beim Laufen nicht zu viel. Vergesst aber nicht, genug Flüssigkeit zu Euch nehmen. Mit vollem Bauch seid ihr unbeweglich. Mein Kollege geht voran und ich bleibe der Letzte in der Schlange, damit keiner von Euch verloren geht. Wir treffen uns spätestens alle zusammen wieder heute Abend in der Herberge in Palas de Rei. Viel Spaß!“
Ich habe den Startschuss zwar nicht gehört, aber es muss einen gegeben haben. Alle rennen zur selben Zeit los, schubsen, drängeln, schimpfen: „Mach Platz! Lass mich doch mal vorbei!“ Vielleicht hab ich aber auch was Wichtiges verpasst und die sind auf der Flucht! Oder gibt es einen wertvollen Preis für den Ersten? Damit wir uns richtig verstehen: Es ist keine Schulklasse. Diese Menschen, die hier „pilgern“, sind so zwischen 30 und 60 Jahre alt.
Eine Frau stolpert ihrem Mann hinterher, dem es völlig egal ist, dass seine Beine doppelt so lang sind und sie einen Weltrekord im Rucksack-Laufen-für-Damen hinlegen muss, um an ihm dranzubleiben. Er dreht den Kopf nur so weit nach hinten, dass der Schall seiner Worte auch bei seiner Frau ankommt: „Komm schon! Mach voran! Sonst schaffen wir das heute nicht!“ Sie ist so außer Atem, dass sie kein Wort herausbekommt. Die Schritte der kleinen älteren Dame sind völlig unbeholfen und unsicher. Es ist nicht zu übersehen, dass sie untrainiert ist. Sie hat keine Ahnung, wie sie den Pfützen, Steinen und Wurzeln auf dem Weg ausweichen soll, ohne ihr Tempo zu verringern. Ihre Wanderstöcke hat sie unter einen Arm geklemmt. Es bleibt keine Zeit sie einzusetzen, ohne darüber zu stolpern. Das Pilgerfeld wird zusehends länger. Die „Besten“ kristallisieren sich sehr schnell heraus. Die „Schlechteren“ straucheln verzweifelt, teilweise schimpfend mit immer größer werdendem Abstand hinterher.
Es ist eine Farce. Was hat das denn mit Pilgern zu tun? Ich bin heilfroh, dass der Reisebus sich nicht nach mir auf diesem Parkplatz eingefunden hat. Die hätten mich garantiert beim Überholen gnadenlos überrannt. Die Kuhherde von gestern kommt mir jetzt gar nicht mehr so angsteinflößend vor. Die Viecher - also die von gestern - waren echt diszipliniert und die Ruhe selbst.
Ich brauche eine Weile, bis ich dieses Schauspiel verarbeitet habe. Der Weg nach Palas de Rei ist überwiegend gut und leicht zu gehen. Die Bars am Jakobsweg-Rand sind heute allerdings nicht zu empfehlen. Hier finden sich in großen Gruppen die ausgesetzten Pilger ein. Sie lamentieren und diskutieren. Auf zwei von ihnen lasse ich mich, an ihren Ambitionen interessiert, ein. Dieses „Vergnügen“ währt aber nur kurz. Sie wollen MIR gute Ratschläge geben, wie man sich am besten auf dem Pilgerweg zurechtfindet. Ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, als sie mich daran erinnern, dass es in Galicien oft regnet und mein Regenschutz immer griffbereit sein sollte. Sie raten mir, auf meine Füße zu achten und Blasen rechtzeitig zu behandeln. Da kennen sie sich nämlich mit aus! Als ob das nicht schon genug wäre, erzählen sie mir, was sie schon alles erlebt haben. Beide wollen nichts von dem hören, was mir bisher so widerfahren ist. Na denn: „Buen Camino!“
gleicher Tag (insgesamt 715,0 km gelaufen)
Palas de Rei (4812 Einwohner), 570 m üdM, Provinz Lugo
Hostal, Doppelzimmer, 24 € ohne Frühstück
Nach fast achtundzwanzig Kilometern komme ich ziemlich geschafft in Palas de Rei an. Der Jakobsweg führt durch eine großzügige Parkanlage in der eine Herberge ansässig ist. Sie vermieten zu meiner Freude auch Hotelzimmer. Wie so oft am Ende des Tages, klettere ich mit meinen letzten körperlichen Reserven die vielen Stufen zum Hoteleingang empor. Leider ist aber kein einziges Bett mehr frei. Schade! Nicht nur, dass ich am Ende bin, es gefällt mir einfach sehr gut hier. Trotz des Hochbetriebs herrscht eine überaus positive Stimmung.
Der schicke, große Gastraum, in dem ich mich niedergelassen habe, befindet sich im Hotelbereich. Der freundliche Señor, der alle Hände voll zu tun hat, verspricht mir, sobald er eine freie Minute findet, telefonisch für mich bei einem befreundeten Hotelier
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