5. Die Rinucci Brüder: In Neapel verlor ich mein Herz
oder nicht?“, wechselte er unvermittelt das Thema.
„Natürlich.“
„Okay, dann sei bitte ganz früh fertig.“ Schnell wünschte er ihr eine gute Nacht und eilte ins Haus. Er ärgerte sich über sich selbst, denn es war nicht seine Art, feige davonzulaufen. Doch über die Frau zu reden, nach der er sich immer noch sehnte, tat zu weh.
Wenig später stellte er sich unter die Dusche in der Hoffnung, alles, was ihn bedrückte, abwaschen zu können. Aber die Gedanken, mit denen er sich den ganzen Tag herumgequält hatte, ließen sich nicht vertreiben.
Es hatte ihm einen Stich gegeben, seinen Zwillingsbruder Carlo vor Glück und Freude strahlen zu sehen. Der Anblick hatte ihn daran erinnert, dass Sapphire einmal gesagt hatte: „Vergiss den Rest der Welt, wir haben uns. Was brauchen wir sonst noch?“
Als er jetzt die Augen schloss, sah er sie in dem eleganten roten Kleid vor sich, in dem er sie kennengelernt hatte. Der tiefe Ausschnitt ließ ihre wunderschönen Brüste ahnen. Mit ihrer perfekten Figur und den langen Beinen zog sie die Aufmerksamkeit aller Männer auf sich, was sie sichtlich genoss.
Innerhalb weniger Stunden hielt er sie nackt in den Armen. Ihr herrlicher Körper, ihre verführerische Stimme und ihr Lachen hatten ihm beinah den Atem geraubt.
Andere Visionen stiegen vor ihm auf. Auf einem Jahrmarkt hatten sie sich wie Kinder amüsiert und schließlich eng umschlungen vor einem Fotoautomaten posiert, aus dem kurz darauf zwei Bilder herausgekommen waren, für jeden eins.
„Sapphire“, flüsterte er jetzt. Ihren Familiennamen hatte sie ihm nicht verraten.
Er war ihrem Zauber erlegen. Mit ihrer erotischen Ausstrahlung hatte sie ihn betört und zu einem anderen Menschen gemacht. Sie war eine einfallsreiche Geliebte, die nicht geduldig darauf gewartet hatte, dass er zu ihr ins Bett kam. Stattdessen war sie ihm unter die Dusche gefolgt, hatte die Arme um ihn gelegt und ihn verführt.
Eines Abends hatte sie ihn mit dem Versprechen verlassen, am nächsten Morgen zurückzukommen. Er hatte die ganze Nacht nicht schlafen können und sich vorgenommen, am nächsten Tag eine Entscheidung herbeizuführen.
Doch sie war nicht wieder aufgetaucht. Er hatte den ganzen Tag gewartet, dann noch einen weiteren und noch einen – er hatte sie nie wiedergesehen.
Nach seiner Rückkehr aus London war er nicht mehr derselbe Mensch, auch wenn er nach außen hin so tat, als wäre alles in Ordnung. Dass seine Fröhlichkeit oft nur aufgesetzt war, schien niemandem aufzufallen. Über sein Geheimnis sprach er nie und auch nicht über seine Gefühle, die er sowieso nach Möglichkeit verdrängte. Dass er sich Evie anvertraut hatte, war die große Ausnahme.
An diesem Tag hatte er deutlich gespürt, dass sich für Carlo eine Tür geöffnet hatte, die ihm selbst verschlossen war. Damals hatte sie sich auch für ihn halb aufgetan, ehe sie ihm brutal vor der Nase zugeschlagen worden war und ihn in tiefe Verzweiflung gestürzt hatte.
In der Stille um ihn herum fühlte Ruggiero sich jetzt noch einsamer als jemals zuvor, obwohl die Villa voller Menschen war.
Da der Abflug sich verzögerte, musste Polly in London stundenlang warten. Als sie endlich in Neapel landete, war sie völlig erschöpft. Während der Wartezeit und des Flugs hatte sie noch einmal gründlich über alles nachgedacht und bereute jetzt ihren Schritt.
In der Schlange vor der Passkontrolle warf sie einen Blick in den großen Spiegel an der Wand neben ihr und wünschte, sie hätte es nicht getan, denn sie war mit ihrem Aussehen alles andere als zufrieden.
Irgendwie fand sie es ungerecht, dass sie trotz der relativ großen Ähnlichkeit mit ihrer Cousine Freda weniger Aufmerksamkeit erregte. Wie sie war Polly groß und schlank und hatte ebenfalls langes blondes Haar. Fredas Schönheit wurde noch durch ihre geschmeidigen, anmutigen Bewegungen unterstrichen, während sie selbst eher forsch und zielstrebig wirkte.
„Ich bin Krankenschwester und muss ständig hin- und herlaufen, weil ich immer woanders gebraucht werde. Die Patienten, die nach mir klingeln, warten nicht. Und wenn ich müde nach Hause komme, bin ich nicht in der Stimmung, mich dekorativ auf einem Sofa zu rekeln, sondern falle erschöpft ins Bett“, hatte sie einmal zu Freda gesagt, als sie über das Thema sprachen.
Freda hatte belustigt zugehört. „Du kannst das so herrlich beschreiben, Liebes, und bist einfach wunderbar. Was sollte ich ohne dich nur machen?“
So war Freda. Sie fand immer die
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