5 Tage im Sommer
Naturschutzgebiet, durch das ein schmaler Kanal nach Fullers Marsh führte. Nirgends ein Haus zu sehen. Nur verlassenes Moorland, das hinter einem hohen Schilfwall lag. Silber- und Blaureiher pirschten sich staksend an ihre Beute heran, Fischadler schwebten bedrohlich am Himmel.
»Ich bin hier schon mal gewesen«, sagte Roger. »Hab mal ein paar Paddler gesehen, aber das war’s auch.«
Geary hatte in seinem langen Leben selten so viel Stille erlebt. »Perfekt«, sagte er.
Al Snow hatte das Cape tatsächlich wie seine Westentasche gekannt, und weil er sein Leben lang geangelt hatte, hatte er auch von Fullers Marsh gewusst. Die Kriminaltechniker waren hier schnell fündig geworden. Nach wenigen Minuten hatten sie bereits Ölflecken auf der Oberfläche der stillen Mündungsarme entdeckt. Damit war bewiesen, dass sich vor nicht allzu langer Zeit ein Motorboot hierher verirrt hatte. An einigen Schilfrohren waren zudem Rückstände weißer Farbe gefunden worden, und es wurde erwartet, dass man im Labor eine Übereinstimmung mit dem Anstrich von Snows Boot feststellen würde.
Hier hatte Snow Emily Parker fast eine Woche lang versteckt.
Sie würden nie erfahren, warum er sich schon am vierten statt am fünften Tag zum abgelegenen Bootssteg in der Shoestring Bay zurückbegeben hatte. Geary nahm an, er hatte bemerkt, dass man ihm auf der Spur war. Er hatte das Schicksal etwas zu sehr herausgefordert, und vielleicht hatte er sogar erwischt werden wollen. Aber andererseits lag ihm wohl auch daran, seine Serie zu einem gelungenen Abschluss zu bringen.
Sobald das Hochwasser in der Bucht eingesetzt hätte, wäre er zurück nach Fullers Marsh gefahren. Es wäre am späten Nachmittag oder frühen Abend gewesen, ungefähr um diese Zeit. Er hätte sich jetzt gerade Sam Parker vorgenommen.
»Warum war diese Nuss so schwer zu knacken?«, fragte Geary. »In der Vergangenheit haben wir fast nie versagt.«
»Wir waren dem Täter auch noch nie so nahe. Wenn man etwas zu dicht vor Augen hat, sieht man nicht mehr klar.« Bell drosselte den Motor, während sie weiter in das Marschland hineintuckerten. »Snow war einer der Besten, mit denen wir es zu tun hatten, findest du nicht auch?«
»Ja, du hast Recht.« Geary atmete die frische salzige Luft ein. »Schade eigentlich, dass wir nicht mehr mit ihm reden konnten.«
»Das finde ich auch, aber so, wie die Dinge stehen, müssen wir uns eben mit dem wenigen begnügen, was wir wissen.«
Geary hatte Al Snows Haus an diesem Nachmittag zum ersten Mal gesehen. Es handelte sich um ein Mobile Home, das auf einem kleinen Rasenstück aufgestellt war, in einer langen Reihe identischer Grundstücke. Das Haus war mit grauem Aluminium verkleidet. Es gab eine holprige Auffahrt, aber keine Garage. Die Vordertür wurde von zu dicht beieinander liegenden Fenstern flankiert, die wie glänzende Knopfaugen aussahen. Jetzt, wo sie Bescheid wussten, sah es hier durchaus verdächtig aus, aber Geary war klar, dass er Snows Haus ohne Schwierigkeiten mit seiner Einschätzung des Mannes als harmloser Einfaltspinsel in Einklang gebracht hätte, wenn er früher einen Blick darauf geworfen hätte. Der winzige Vorderrasen war bevölkert von geschäftigen Gartenzwergen, die Laternen hielten, Schubkarren vor sich herschoben, Rehe fütterten. Die Inneneinrichtung war unaufdringlich: Wohnzimmergarnitur, Esszimmergarnitur, Schlafzimmergarnitur – alles sah aus wie direkt aus dem Versandhauskatalog. Nirgends war auch nur ein einziges Foto aufgestellt, nicht einmal eins von Snows Tochter. Geary war durch die kleinen Räume gewandert, bemüht, sein verwundetes Ego zu pflegen, und voller Selbstkritik, weil er versagt hatte. Gleichzeitig hatte Amy Cardozas Team eine gründliche Hausdurchsuchung durchgeführt.
Geary hatte neben Amy gestanden, als sie die Klappen eines Pappkartons zurückschlug, den sie im Schlafzimmerschrank gefunden hatte. Ihre Finger zögerten, zu begreifen, was sie vor sich sah: Snow hatte Trophäen aufbewahrt. Aber keine Baseball-Statuetten, Fußballplaketten oder Gedenkmedaillen, sondern Trophäen persönlicher Art, Kleinigkeiten von den Schauplätzen seiner Verbrechen. Die von Sand verkrustete Badehose eines Jungen, die zerkratzte Goldschnalle eines Frauenschuhs, ein zerquetschter Kaffeebecher mit einer Spur Lippenstift am Rand, der blutige Verschluss eines BHs, säuberlich eingehakt, eine schwarze Mütze mit einem limonengrünen Smiley-Anstecker an der Seite, ein altes rotes Nadelkissen, bei dem die
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