50 Rituale für das Leben
spürte ich, dass noch etwas anderes für meinen Vater wichtig war. Die Kirche erinnerte ihn daran, dass es im Leben letztlich um Gott geht. So können auch uns die vielen Kirchen, an denen wir vorbeifahren, wie Erinnerungszeichen sein, die uns sagen: Öffne deine Augen. Gott umgibt dich. Der Himmel öffnet sich über dir. Auch in den Städten erinnert uns noch heute das Läuten der Glocken daran, dass wir innehalten sollen. Die Glocken wollen uns nicht nur zum Gottesdienst oder zu einem Gebet einladen. Sie erinnern uns auch daran, welchen Klang wir unserem Leben geben möchten. In vielen Dörfern und Städten gibt es noch das Morgen-, Mittags- und Abendläuten der Kirchen. Es erinnert an das alte Gebet, den «Engel des Herrn», in dem wir die Worte des Engels an Maria meditieren.
Rituale schaffen Heimat. Sie geben und verstärken das Gefühl, daheim zu sein. Ich vollziehe die gleichen Rituale, die meine Eltern und Großeltern vollzogen haben. Das gibt mir ein Gefühl der Kontinuität und stärkt das Vertrauen, dass ich an der Lebens- und Glaubenskraft meiner Vorfahren teilhabe. Ich erlebe immer wieder alte Mitbrüder, die in großer Treue die Rituale des klösterlichen Alltags befolgen. Das gibt ihnen das Gefühl, eingebunden zu sein in das Ganze der Gemeinschaft und ihrer Tradition. Für alte, alleinstehende Menschen sind Rituale ein Weg, mit sich und ihrem Leben zurechtzukommen und sich daheim zu fühlen. Heimat ist hier nicht gemeint im Sinn von sentimentaler Nostalgie, sondern so, wie die deutsche Sprache sie von der Wortwurzel her versteht. Die deutsche Sprache sieht Heimat, Heim und Geheimnis zusammen. Daheim sein kann man nur, wo das Geheimnis wohnt.Wirkliche Heimat ist dort, wo das Geheimnis Gottes mich umgibt. In den Ritualen habe ich das Gefühl, dass ich nicht allein bin. Ich vollziehe die Rituale, um mich zu vergewissern, dass Gott bei mir ist, dass seine zärtliche Liebe mich umgibt.
Rituale sind die Vergewisserung, dass mein Leben gelingt. Wir wissen, dass vom Anzünden einer Kerze oder von der morgendlichen Meditation das Gelingen des Lebens nicht abhängt. Und dennoch drücken wir beim Entzünden einer Kerze aus, dass Gottes Licht in meine Dunkelheit leuchtet, dass sein Licht stärker ist als alle Finsternis, dass seine Liebe die Kälte dieser Welt überwindet. Ich drücke mit dem Ritual aus, dass ich unter Gottes Verheißung stehe. Und seine Verheißung ist, dass mein Leben gelingen wird. So hat es Gott dem Jakob auf der Himmelsleiter verheißen: «Ich vollziehe an dir, was ich dir verheißen habe.» Gott wird auch an uns tun, was er uns versprochen hat. Er hat uns Heil und Erlösung in seinem Sohn Jesus Christus verheißen. Das wird uns zuteil. Unser Leben wird vielleicht anders gelingen, als wir uns das vorgestellt haben. Aber es wird gelingen. Indem ich das Ritual vollziehe, drücke ich meinen Glauben an die Zusage Gottes aus, dass mein Leben heil wird und ganz.
Rituale sind ein Ort der Begegnung mit mir selbst und mit Gott. Rituale bringen mich in Berührung mit mir selbst und mit meiner Mitte. Indem ich etwas tue, was nicht von der Welt benutzt werden kann, was keinen äußeren Nutzen hat, komme ich in Berührung mit mir selbst, mit meinem wahren inneren Kern. Ich komme in meine Mitte. Ich habe das Gefühl, bei mir zu sein und in mir zu ruhen. Und die Rituale sind der Ort, an dem ich Gott begegne. Ich vollziehe ja das Ritual, weilich daran glaube, dass Gott bei mir ist. Das Ritual öffnet mich dem gegenwärtigen Gott gegenüber. Es ermöglicht mir, Gott zu begegnen. Ich höre im Ritual auf, vor mir und vor Gott davonzulaufen. Ich halte inne und halte stand. Und ich höre nach innen und vertraue darauf, dass Gott in mir ist und um mich herum, dass er mich umgibt und dass er zu mir sprechen möchte.
ERSTER TEIL 1–14
Den Tag gestalten
D ie Tage zerrinnen uns oft zwischen den Fingern. Sie gehen an uns vorüber, ein Tag nach
dem anderen. Wir stolpern manchmal einfach nur in einen neuen Morgen hinein und fallen abends müde ins Bett. Aber wir leben nicht bewusst das Geheimnis
eines jeden Tages. Rituale halten etwas dagegen. Sie wollen uns bewusst machen, dass jeder Tag einmalig ist. Sie wollen uns daran erinnern, dass wir jeden
Tag unter dem Segen Gottes stehen und ihn vor Gott und mit seinem Segen leben. Rituale strukturieren den Tag. Sie erinnern uns immer wieder daran, selber
zu leben, anstatt gelebt zu werden. Und sie bringen uns in Berührung mit uns selbst. Wir leben den Tag
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