58 - Die Liebe des Ulanen 04 - Hinter feindlichen Linien
der Kapitän besaß trotz seines Alters so viel Körperkraft, daß ihm die Last, welche er trug, nicht übermäßig schwer wurde. Sie gelangten hinunter in den Hauptgang, da, wo die verborgenen Treppen ihren Ausgang nahmen.
„So“, sagte der Alte. „Hier muß ich ein wenig ausruhen.“
„Wohin denn?“
„Es geht jetzt stets zu ebener Erde fort. Gehen Sie hinter mir, und nehmen Sie ein wenig Fühlung, dann können Sie keinen einzigen Fehltritt tun.“
Sie begannen nun die Wanderung, immer in das tiefe Dunkel hinein. Es wurden einige Türen geöffnet. Später fühlte der Graf hölzerne Wände, wie von aufeinanderstehenden Kisten zu seiner Rechten und Linken. Dann blieb der Alte halten.
„Am Ziel“, sagte er.
„Schön! Das war ein verdammtes Avancieren. Wo befinden wir uns jetzt?“
„Das werden Sie nachher sehen.“
„Ist Marion noch betäubt?“
„Ja! Sie hat sich noch nicht bewegt.“
Er legte seine Last zu Boden und öffnete dann eine Tür. Sie drehte sich laut kreischend in den verrosteten Angeln.
„Das ist die Einzelhaftzelle“, sagte er. „Fühlen Sie den Eingang?“
„Ja.“
„Werfen Sie die Kleider hinein. Ich werde unsere Gefangene darauf betten.“
Der Graf gehorchte diesem Gebot. Die Angeln kreischten wieder; mehrere Riegel wurden vorgeschoben, und dann nahm der Alte die Laterne heraus.
„So, jetzt sollen Sie sehen, wo Sie sich befinden“, sagte er, indem er das Licht auf die Umgebung fallen ließ. Es war ganz dasselbe Gewölbe, in welchem Müller sich des Schlüssels bemächtigt hatte.
Dem Grafen war doch ein wenig bange um Marion geworden.
„Sie wird doch nicht etwa erstickt sein?“ sagte er.
„Nein. Sie atmete. Ich bin überzeugt, daß sie in kurzer Zeit zu sich kommen wird.“
„Ich möchte doch sehen, wie sie sich benimmt.“
„Das ist unmöglich. Übrigens können Sie sich leicht denken, wie freudig überrascht sie sein wird, sich in so sicherer Verwahrung zu befinden.“
„Hat sie Essen und Trinken?“
„Nein. Das würde ja ganz und gar gegen unsere Absichten sein.“
„Und wann gehe ich zu ihr?“
„Nicht vor morgen abend. Sie soll ihre jetzige Lage wenigstens vierundzwanzig Stunden lang empfinden. Ich werde übrigens dabeisein, wenn ich mich auch nicht sehen lasse. Kommen Sie jetzt, wir kehren zurück.“
Er führte Rallion denselben Weg zurück, auf welchem sie gekommen waren, und verriegelte dann die Täfelung von außen, um seinem Verbündeten die Möglichkeit eines selbständigen Handelns abzuschneiden. In seinem Zimmer angekommen, war er mit sich selbst sehr zufrieden.
„So“, sagte er zu sich, „was wird sie denken, wenn sie beim Erwachen bemerkt, wo sie sich befindet? Sie wird natürlich sofort ahnen, wer ihr diesen Streich gespielt hat. Das ist der Anfang der Strafe für den Widerstand, den sie mir zu leisten wagte.“
Jetzt nun endlich wechselte er den Anzug und begab sich zum Kutscher hinab, welchen er natürlich zu wecken hatte.
„Das Coupé heraus“, sagte er. „Die gnädige Baronesse wird verreisen.“
Der Mann war einigermaßen verwundert und erkundigte sich:
„Nach dem Bahnhof, gnädiger Herr?“
„Ja. Ich fahre selbst. Du wirst schon hören, wenn ich zurückkehre.“
Der Kutscher führte den Befehl aus. Er schirrte die Pferde ein, spannte sie an und brannte auch die Wagenlaterne an. Der Alte brachte die Dame geführt. Sie war verschleiert. Der Kutscher zweifelte nicht im mindesten daran, daß es die Baronesse Marion sei. Er schloß das Tor auf und verschloß es dann hinter den Fortfahrenden wieder.
Dann kehrte er in seine Kammer zurück und brannte sich eine Pfeife an. Er konnte den nach Thionville führenden Weg von hier aus beobachten und mußte an den Wagenlaternen die Wiederkehr des Alten bemerken. Davon aber, daß nach einiger Zeit die im Tor befindliche kleine Pforte leise geöffnet wurde, bemerkte er nichts. Die Baronin kehrte heimlich in ihre Wohnung zurück. –
Am anderen Morgen sprach es sich sehr schnell herum, daß Baronesse Marion plötzlich habe verreisen müssen. Der Kapitän hielt es für ein Gebot der Klugheit, am Frühstückstisch zu erscheinen, um die Anwesenden mit der Abreise seiner Verwandten bekannt zu machen. Müller nahm die darauf bezügliche Bemerkung schweigend hin, konnte aber doch nicht umhin, einen erwartungsvollen Blick nach der Tür zu werfen.
Diese öffnete sich, als man soeben mit dem Frühstück begonnen hatte – Marion trat ein und grüßte ganz in herkömmlicher Weise.
Der
Weitere Kostenlose Bücher