60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
befassen.“
Der Rote setzte sich langsam wieder nieder und sagte:
„Gut! Freut mich, daß Sie Verstand annehmen! Es ist ja auch besser für Sie! Kommen wir also zur Sache!“
„Ja, kommen wir zur Sache!“
Dabei griff er zur Flasche und trank sie aus.
„Sie haben vorhin ganz recht geraten“, sagte der Rote. „Ihr Bruder wurde auf Veranlassung des Hauptmannes, dem dies sehr viel Geld gekostet hat, herausgelassen –“
„Wohl den Schließer bestochen?“
„Ja.“
„Ich hörte so etwas.“
„Ihr Bruder erhielt ein rotes Mal auf die Wange. Das sollten die sehen, bei denen er einbrach. Dadurch wurde die Annahme begründet, daß es einen gibt, der ihm außerordentlich ähnlich sieht, der aber ein Mal auf der Wange hat. Nun aber war der Hauptmann imstande, zu beweisen, daß derjenige, welcher den Einbruch verübt hat, wegen dessen Ihr Bruder sich jetzt in Untersuchungshaft befunden hat, ein rotes Mal an der Wange hatte. Folglich mußte Ihr Bruder freigesprochen werden!“
„Alle Teufel!“
„Oder etwa nicht?“
„Ganz sicher! Verdammt feiner Kniff! Das kommt direkt aus dem Kopf des Hauptmanns, aus keinem anderen.“
„So ist's allerdings in Wirklichkeit. Ihr Bruder wurde zweimal herausgelassen. Das erstemal verdarb er es, und das zweitemal ließ er sich gar gefangennehmen!“
„So ein riesenhafter Dummkopf! Was aber nun? Ich glaube nicht, daß er noch zu retten ist!“
„Für jetzt gilt es nur, Zeit zu gewinnen. Und da sollen Sie auch mithelfen.“
„Wieso?“
„Ihr Bruder muß für verrückt gelten.“
„Donnerwetter! Er soll so tun, als ob er verrückt sei?“
„So ähnlich, aber nicht ganz, denn er wird in Wirklichkeit ein wenig verrückt sein!“
„Hole Sie der Teufel!“
„Jetzt noch nicht! Der Hauptmann braucht Ihren Bruder, er will alles für ihn tun. Nun gibt es eine Medizin, welche verrückt macht, verstanden, mein Lieber?“
„Ja, solche Mittel gibt es mehrere!“
„Sie sind entweder zu gefährlich oder nicht zuverlässig.“
„Belladonna?“
„Vielleicht. Oder wenigstens den Stoff, der sich in der Tollkirsche befindet. Man nennt ihn Atropin.“
„Den soll mein Bruder erhalten?“
„Ja.“
„Wenn er nun wirklich verrückt wird?“
„Das soll er ja!“
„Und auch verrückt bleibt?“
„Der Hauptmann wird schon sorgen, daß dies nicht geschieht!“
„Gut! Der Hauptmann versteht sich auf solche Sachen. Aber was soll der Wahnsinn meinem Bruder helfen?“
„Sehen Sie das nicht ein?“
„Jetzt noch nicht.“
„Nun, erstens wird dadurch die Untersuchung unterbrochen. Dadurch fällt manches in Vergessenheit. Der Kranke wird scharf beobachtet, und resultiert man, daß er wirklich geisteskrank ist, so schickt man ihn in eine Irrenanstalt.“
„Die soll der Teufel holen! Ich mag nichts davon wissen!“
„Unsinn! Dort wird er nicht so streng gehalten. Er genießt Freiheiten, die es im Zuchthaus nicht gibt.“
„Ah, jetzt begreife ich, dann wird er herausgeholt?“
„Ja, wenn er nicht bereits vorher freigesprochen worden ist.“
„Freigesprochen?“
„Ja.“
„Nicht möglich!“
„Warum nicht? Ist es denn nicht Wahnsinn, einzubrechen?“
„Donnerwetter! Zielen Sie dahin? Man soll annehmen, daß er bereits seit längerer Zeit wahnsinnig ist?“
„Natürlich!“
Der Riese nickte langsam und bedächtig mit dem Kopf. Dann brachte er die sehr wichtige Frage vor:
„Aber wie soll mein Bruder zu der Medizin kommen?“
„Durch Sie.“
„Durch mich? Da verrechnen Sie sich ganz und gar! Wenn man alle Brüder miteinander sprechen läßt, uns beide aber nicht. Ich darf auf keinen Fall zu ihm. Ich stehe ja wohl noch schwärzer angeschrieben, als er selbst!“
„Auf diesem offiziellen Weg soll es auch gar nicht geschehen. Da würden wir ihm gar nichts helfen, sondern die Sache nur verschlimmern. Nein, es soll heimlich geschehen. Sie sind doch wohl unter anderem auch Trapez- und Seilkünstler?“
„Das versteht sich! Ich bin alles!“
„Nun, dann sind Sie ja der Mann, den wir brauchen können!“
„In welcher Weise aber?“
„Hm, man muß eine Leiter anlegen.“
„Also von außen?“
„Ja.“
„An das Fenster seiner Zelle?“
„Natürlich.“
„Wissen Sie es?“
„Sehr genau. Ich habe mich erkundigt. Ich habe einen Bekannten, welcher der Freund des Gefängnisgeistlichen ist.“
„Schön! Es wäre verteufelt unangenehm, wenn man an ein falsches Fenster käme!“
„Natürlich! Man kann da nicht vorsichtig und sicher
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