61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig
so schön sagt:
„In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen, und ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten!“
Die Zuhörer waren tief ergriffen von der Gewaltigkeit dieser Schilderung. Das war ganz der zauberische Bilderreichtum des Dichters der ‚Heimat-, Tropen- und Wüstenbilder‘. Sie glaubten nun die Aufgabe beendet. Der Gefangene hatte ja mit seinem Gewissen, mit seinem Gott abgeschlossen und war ruhig und selig durch das Tor der Ewigkeit getreten. Aber nein. Die Logik der Aufgabe erforderte, daß die Sühne auch von den irdischen Vertretern des Gottesgedankens anerkannt und legitimiert werde. Darum fuhr Bertram fort:
„Schritte nahen, und die Zelle
Wird erhellt von Kerzenschein;
Über die gefeite Schwelle
Tritt der Diener Gottes ein.“
Dieser sieht, daß der Kranke gestorben ist. Die Leiche kniet mit gefalteten Händen, in betender Stellung unter dem vergitterten Fenster, durch welches die brechenden Augen mit dem letzten ersterbenden Blick das Leuchten der Weihnachtssterne erfaßt haben, jener Sterne, welche im Klang der Sphärenmusik das große Evangelium verkünden: „Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ Er steht ergriffen bei der Leiche, hinter ihm der Schließer, welcher die Zelle des Todes geöffnet hat. Die Stellung des Verstorbenen sagt ihm, daß derselbe seine Rechnung nicht nur mit dem Leben, sondern auch mit dem Tod abgeschlossen habe, und sein priesterliches Gewissen drängt ihn, dem Entschlafenen noch in den Tod die Vergebung seiner Sünden nachzurufen. Darum schloß Robert Bertram seine Improvisation:
„Und der Priester legt die Hände
Segnend auf des Toten Haupt:
Selig ist, wer bis ans Ende
An die ewige Liebe glaubt!
Selig, wer aus Herzensgrunde
Nach der Lebensquelle strebt
Und noch in der letzten Stunde
Seinen Blick zum Himmel hebt!
Suchtest du, schon im Verscheiden,
Droben den Versöhnungsstern,
Wird er dich zur Wahrheit leiten
Und zur Herrlichkeit des Herrn!
Darum gilt auch dir die Freude,
Die uns widerfahren ist;
Denn geboren wurde heute
Auch dein Heiland, Jesus Christ!“
Nach einer höflichen Verbeugung wendete Bertram sich zur Seite. Er selbst war von seiner Improvisation so ergriffen, daß er unwillkürlich verzichtete, auf seinen Sitz zurückzukehren. Er trat vielmehr an das Fenster und lehnte seine heiße Stirn an die kalten Scheiben, um sie an denselben zu kühlen.
Der Eindruck seiner Deklamation war ein so gewaltiger, daß den Zuhörern am Schluß derselben zunächst die Stimme versagte. Dann aber brach der Beifall um so stürmischer los. Sie alle erhoben sich und drängten sich herbei, um ihm ihre Bewunderung zu zollen.
Nur zwei hielten sich zurück – Fanny von Hellenbach und der Baron Franz von Helfenstein. Dieser letztere wartete, bis sich die anderen ausgesprochen hatten, und fragte, dann im anmaßenden Ton eines Examinatoren:
„Herr Bertram, wollen Sie mir wohl sagen, ob Sie dieses Gedicht nicht vielleicht vorher bereits in irgendeiner Sammlung gefunden und dann auswendig gelernt haben? Es scheint mir geradezu unmöglich zu sein, daß Sie es erst in diesem Augenblick verfertigt haben!“
Einige Augenblicke lang herrschte tiefe Stille. Das war eine geradezu beabsichtigte Beleidigung, welche um so auffälliger und verwerflicher war, als sie gegen einen jungen Menschen, der bereits so unschuldig gelitten hatte, geschleudert wurde, und zwar hier an dieser Stelle, in Gegenwart von Herrschaften, welche sich nur zu dem Zweck versammelt hatten, die Ehre des jungen Mannes zu restituieren.
Der Oberst von Hellenbach war als Wirt von dieser Beleidigung mit betroffen. Er sagte sich, daß der Baron bereits zweimal von Bertram zurechtgewiesen worden sei; er sah die Zeichen der Indignation auf allen Gesichtern, und er hielt es für seine Pflicht, sich des Beleidigten anzunehmen, hatte aber nicht Zeit, ein einziges Wort zu sagen, denn Bertram übernahm es selbst, sich zu verteidigen. Und zwar geschah dies in einer Weise, als ob er während der kurzen Zeit seines Lebens sich nur in aristokratischen Kreisen bewegt habe. Kaum nämlich hatte der Baron ausgesprochen, so trat er mit raschen Schritten vom Fenster herbei, stellte sich in verächtlicher Haltung vor ihn hin und sagte:
„Helfenstein, Sie sind ein gemeiner Mensch, ein Lump, mit dem man eigentlich gar nicht sprechen sollte!“
Er nannte ihn also nur Helfenstein. Er ließ sowohl das ‚Herr‘ als auch das ‚von‘ weg. Die Anwesenden waren frappiert. Sie schwiegen.
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