62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
verlassen. Der Diener lag auf einem Diwan, und die Melitta saß bei ihm.
„Ich fand diesen Herrn auf der Straße“, meldete die Wirtschafterin. „Er sagte, daß er ein Arzt sei, und so bat ich ihn, mitzukommen.“
„Sehr gut, sehr gut! Ich befinde mich in großer Sorge“, sagte die Melitta, sich von ihrem Sitz erhebend.
„Doktor Zander, Assistent bei Herrn Direktor Doktor Mars“, stellte sich der junge Mann vor.
„Bitte, da liegt der Mann!“
Zander warf einen Blick über die Diele. Er sah die Glasscherben und machte ein besorgtes Gesicht.
„Die Flasche ist zerbrochen“, sagte er. „Der Hieb muß also ein ungewöhnlich kräftiger gewesen sein.“
„Gott! Er wird doch nicht tot sein!“
„Hoffen wir das Gegenteil!“
Er trat zu dem Hausdiener heran und nahm dessen Hände. Sein Gesicht wurde ernster. Er öffnete Rock, Weste und Hemd und legte die Hand auf die Gegend des Herzens.
„Bitte, einen kleinen Spiegel!“ sagte er dann.
Der Spiegel wurde gebracht. Er hielt ihn vor den Mund und die Nase des Dieners und betrachtete ihn dann scharf.
Draußen vor der offenen Tür versammelten sich die Mädchen, welche vorher noch so lustig gewesen waren. Im Halbdunkel sahen ihre vor Erwartung starren, geschminkten Gesichter wie Masken aus.
Der Arzt legte den Spiegel weg und untersuchte dann die Hirnschale des Dieners. Nach einer kurzen Weile nickte er sehr ernst mit dem Kopf. Er war zu einem unglücklichen Ergebnis gelangt, das sah man ihm an.
„Was werden wir hören müssen!“ jammerte die Melitta.
„Fassen Sie sich!“ sagte er. „Das Ergebnis meiner Untersuchungen ist allerdings kein erfreuliches.“
„Ist er tot?“
„Ja.“
„Herrgott! Welch ein Unglück!“
„Wer hat ihn mit der Flasche geschlagen?“
„Ein Gast.“
„Mit Absicht?“
„Ja.“
„Also ein Totschlag oder gar ein Mord. Sie müssen sofort Anzeige machen.“
Die Frauenzimmer schlugen vor Schreck die Hände zusammen und stießen laute Jammerrufe aus.
„Irren Sie sich nicht?“ fragte die Melitta. „Ach, wenn Sie sich doch täuschten!“
„Es ist kein Irrtum möglich. Der Mann ist auf der Stelle tot gewesen. Die Hirnschale ist ihm total zerschmettert. Sie wird nur noch durch die Kopfhaut zusammengehalten. Kennen Sie den Täter?“
„Persönlich ja, sonst aber nicht weiter.“
„Wo wohnt er?“
„Ich weiß es nicht.“
„Aber er ist doch aus Rollenburg?“
„Höchstwahrscheinlich nicht.“
„Desto schneller müssen Sie Anzeige machen, damit der Mann womöglich noch ergriffen werden kann. Hat er sein Opfer noch untersucht, ehe er entkam?“
„Nein. Er ist ganz ruhig fortgegangen. Er glaubt nicht, diesen armen Menschen erschlagen zu haben.“
„So befindet er sich wohl noch in der Stadt. Also eilen Sie nach der Polizei. Ich will bei der Leiche bleiben, bis die Beamten kommen.“
Die Wirtschafterin trat nun diesen zweiten, schweren Gang an. Die Melitta schritt erregt in dem Salon auf und ab. Sie vermochte vor Angst nicht, einen festen Gedanken zu fassen.
„Die beiden stritten sich wohl miteinander?“ fragte Doktor Zander.
„Ja.“
„Auf welche Veranlassung?“
„Ich war nicht dabei“, log sie. „Ich kam erst zu spät dazu. Es war mir nicht möglich, den Streit zu schlichten. Was soll daraus werden!“
„Sind Zeugen vorhanden?“
Sie zögerte zu antworten. Erst nach einer Weile sagte sie:
„Ich weiß das nicht. Ich bin überhaupt jetzt zum Denken unfähig; ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht.“
In seinem Gesicht sah man das Mitleid mit der Verachtung kämpfen. Um nur etwas zu sagen, erkundigte er sich:
„Darf ich vielleicht Ihren Namen wissen?“
„Wie, den wissen Sie noch nicht?“
„Nein. Ich befinde mich erst seit Stunden, nicht seit Tagen hier in Rollenburg.“
„Mein Name ist Melitta.“
„Melitta?“ fragte er erstaunt, fast erschrocken.
Das war ja der Name, den er vergessen hatte!
„Ja, so heiße ich“, sagte sie.
Er strich sich schnell mit der Hand über die Stirn und fragte sichtlich erregt:
„Gibt es mehrere Damen dieses Namens hier?“
„Nein. Der Name Melitta ist überhaupt sehr selten.“
„Sie treiben – was ist Ihr Geschäft?“
Sie errötete doch einigermaßen, als sie antwortete:
„Das werden Sie bereits bemerkt haben. Sie sind ja Arzt, Herr Doktor.“
„Ah! Sind Sie vielleicht nebenbei Malerin?“
Jetzt wurde sie aufmerksam. Sie wußte, daß sie von ihrem Agenten Uhland zuweilen für eine Malerin ausgegeben wurde. Das konnte sie nicht
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