64 - Der verlorene Sohn 05 - Jäger und Gejagte
natürlich bei sich im stillen:
„Recht hast du, Halunke! Du hast mich zum Pascher gemacht und mich ausgenutzt für ein Lumpengeld! Fünfzehntausend Gulden! Ah! Zehntausend, wenn er tot ist! Man sollte den Kerl einfach erschlagen!“
Der Hauptmann traute den Köhlerleuten nicht mehr. Ihr gestriges Verhalten hatte ihn zur Vorsicht gemahnt. Und ebenso hatte ihn die Unterredung mit Hendschel zu der Überzeugung gebracht, daß er sich auch vor diesem in acht zu nehmen habe. Er hatte sich also entschlossen, sein jetziges Asyl ganz im stillen zu verlassen.
Früh, als die beiden anderen noch schliefen, war er aufgestanden, hatte sich von dem auf dem Tisch liegenden schwarzen Haferbrot ein Stück abgeschnitten, um während des Tags nicht hungern zu müssen, und war dann gegangen.
Draußen an dem dichten, grünen Gartenzaun war er stehengeblieben, und sein Auge musterte das Häuschen, dessen stillen Schutz er von jetzt an nun zu entbehren haben sollte. Er wischte sich mit der Hand über die Stirn und murmelte:
„Nun ist's auch hier vorüber! Vogelfrei! Ein jeder kann mich ermorden, ohne Strafe befürchten zu müssen. Ja, er wird sogar noch dafür belohnt. Ich bin ausgestoßen wie ein wildes Tier. Aber ein wildes Tier will fressen und saufen, will leben. Was es braucht, das raubt es sich also. Ich muß es auch so machen!“
Daß er es bereits so gemacht hatte, als er noch nicht vogelfrei war, daran wollte er nicht denken.
Er ging fort, nicht den breiten Weg, denn auf demselben konnte er jemandem begegnen, und das mußte er gezwungenermaßen vermeiden – sondern er bog in einen schmalen, kaum gangbaren Waldweg ein. Noch wußte er nicht, wohin er sich wenden werde. Er wollte zunächst in die Tiefe des Waldes tauchen und dort überlegen, was für ihn am geratensten sei.
So schritt er tief in Gedanken versunken weiter, bog mehrere Male zur Seite ab, ohne es eigentlich zu wollen, blieb sinnend stehen, ging wieder weiter, bis er zu seiner nicht sehr freudigen Überraschung bemerkte, daß er sich wieder in der Nähe der Köhlerwohnung befinde.
Jetzt nahm er sich eine bestimmte Richtung vor. Er wendete sich gegen Norden mitten in den Wald hinein, da, wo eine enge, kaum gangbare Schlucht steil empor zu einer Höhe führte, von welcher aus man weit in das Land hineinzuschauen vermochte.
Diese Aussicht war von außerordentlicher Schönheit, aber auch ebenso gefährlich. Der Aussichtspunkt lag hart am Rand des Felsens, welcher tief in den dunklen Grund abfiel. Eine Barriere gab es nicht. Wem schwindelte, der konnte sich höchstens an einer der Tannen festhalten, welche ihre spärliche Nahrung aus den Felsenritzen sogen.
So schritt und kletterte er weiter und weiter, immer höher. Fast hatte er den oberen Rand des Felsens erreicht, so stand er erschrocken still. Er hatte über sich, auf der Felsenplatte, eine menschliche Stimme vernommen, nicht etwa sprechend, sondern räuspernd, wie wenn einer zu singen anheben will.
Der Baron stand und horchte. Er hörte ein leises Hüsteln, und dann begann eine volle, kräftige Baritonstimme die Verse:
„Land meiner Väter, länger nicht das meine.
So heilig ist kein Boden, wie der deine.
Nie wird dein Bild aus meiner Seele schwinden.
Und knüpfte mich an dich kein lebend Band,
Es würden mich die Toten an dich binden.
Die deine Erde birgt, mein Vaterland.“
Dann wurde es still. Der Baron hörte nichts, keinen Laut, keine Bewegung mehr.
„Hm!“ dachte er. „Das ist ja ein deutsch-amerikanisches Lied, von Konrad Krez gedichtet. Wie kommt ein Gebirgler dazu, die Melodie desselben zu kennen? Oder ist der Sänger vielleicht ein Fremder? Ich muß doch einmal sehen.“
Er kletterte vollends empor, leise und vorsichtig. Als er den Rand der Felsenplatte erreichte, schob er zunächst nur den Kopf empor. Da lehnte der Sänger an einer der Tannen, welche er mit beiden Armen umfangen hielt, und blickte über die Berge und Täler weit in das Land hinein.
Er war ein Mann in dem Alter des Barons, auch von derselben Figur. Sein Teint war braun. Der Fremde mußte sich wohl viel in der Sonne aufgehalten haben. Ein kräftiger Knotenstock lag neben ihm auf der Erde; auf dem Rücken trug er einen sehr breitkrempigen Hut. Seine Kleidung war nicht diejenige eines reisenden Handwerkers. Sie bestand vielmehr aus teurem Stoff, und war nach dem neuesten Schnitt gefertigt.
„Von diesem Mann habe ich nichts zu befürchten, sondern eher noch etwas zu erwarten“, dachte der Baron.
Er stieg also vollends
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