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64 - Der verlorene Sohn 05 - Jäger und Gejagte

64 - Der verlorene Sohn 05 - Jäger und Gejagte

Titel: 64 - Der verlorene Sohn 05 - Jäger und Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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empor. Dabei verursachte er mit Absicht mehr Geräusch, als gerade nötig gewesen wäre. Der Fremde hörte es und drehte sich herum zu ihm.
    „Guten Morgen“, grüßte der Baron.
    „Guten Morgen“, antwortete der andere.
    „Störe ich?“
    „O nein.“
    „Ich hörte hier oben singen –?“
    „Das war ich.“
    „Ich glaube das Lied zu kennen. Es ist von einem deutsch-amerikanischen Verfasser in Shewoygan. Nicht?“
    „Allerdings.“
    „Ich wunderte mich, dieses amerikanische Lied hier an diesem Ort zu hören.“
    Der andere lachte fröhlich auf und sagte:
    „Das lassen Sie sich nicht wundern. Ich habe es nämlich nicht hier gelernt.“
    „Ah! Wo sonst?“
    „Drüben.“
    „Sie meinen, in Amerika?“
    „Ja.“
    „So haben Sie drüben gereist?“
    „Ja und nein, wie man es nimmt.“
    „Wie verstehe ich das?“
    „Nun, ich bin allerdings da drüben sehr weit herumgekommen, von Kanada im Norden bis an den Amazonenstrom in Brasilien im Süden; gereist bin ich also viel, aber von hier hinüber nicht.“
    „So sind Sie also geborener Amerikaner?“
    „Auch nicht. Meine Heimat liegt hier im Land.“
    „Also ausgewandert?“
    „Ja. Meine Eltern gingen nach Amerika, als ich ein halbes Jahr alt war. Sie sind von hier?“
    „Ja.“
    Der Fremde hatte den Baron scharf betrachtet. Er schien von dieser Beobachtung befriedigt zu sein, denn er sagte:
    „Sind Sie beschäftigt?“
    „Nein.“
    „Also Spaziergänger?“
    „So ähnlich.“
    „Nun, so haben Sie Zeit. Wollen Sie ein bißchen neben mir Platz nehmen? Der Felsen ist bemoost, man sitzt weich. Wir können uns unterhalten und dabei die herrliche Aussicht aus erster Hand genießen.“
    Er legte den Ranzen ab und setzte sich am Stamm der Tanne nieder. Der Baron zögerte ein wenig. Für ihn war es wohl nicht ohne Wagnis, sich hier an einem so offenen Punkt gemütlich zu einem lauten Gespräch niederzusetzen. Man konnte sie hören und dann herkommen. Wurde er erkannt, so war er verloren. Es gab ja nur den einen Ausweg nach der Seite, von welcher er heraufgestiegen war. Nach den drei anderen Seiten fiel der Fels, wie bereits erwähnt, so steil ab, daß eine Flucht in dieser Richtung mit der äußersten Lebensgefahr verbunden war.
    Aus diesem Grund zögerte der Baron. Er lauschte ganz unwillkürlich zurück, in den Wald hinein, ob er vielleicht etwas Verdächtiges zu hören vermöge.
    „Nun?“ fragte der Fremde. „Sie horchen?“
    „Oh, nur so“, antwortete der Baron, einigermaßen verlegen.
    „Haben Sie noch jemand mit?“
    „Nein.“
    „Ich dachte, weil Sie zurücklauschten.“
    „Es war mir, als hätte ich einen Schuß gehört.“
    „Jetzt, im späten Frühjahr? Die Jagd ist ja zu Ende. Wenigstens pflegt zu dieser Zeit hier in euren zivilisierten Ländern das Wild geschont zu werden.“
    „Das ist richtig. Aber der Schuß kann doch irgendeinem Raubzeug gegolten haben.“
    „Na, uns geht er auf keinen Fall etwas an, denn wir gehören ja nicht zum Raubzeug; wenigstens ich nicht, oder Sie vielleicht, mein Freund?“
    Diese Worte waren im Scherz ausgesprochen, und doch erschrak der Baron. Wer ein böses Gewissen hat, ist aller Augenblicke für den Schreck zugänglich.
    „Nein“, antwortete er möglichst unbefangen. „Ich bin weder Fuchs noch Habicht.“
    „Na also! Lassen wir den Förster oder seinen Burschen schießen, so viel es ihm beliebt! Kommen Sie her an meine Seite. Die Aussicht ist schön, aber ich lasse mir durch solche formale Genüsse doch auch die materiellen nicht verleiden. Haben Sie wohl schon gefrühstückt?“
    „Noch nicht.“
    „So lade ich Sie ein, mein Gast zu sein.“
    Er öffnete den Ranzen und zog ein Paket mit Schinkenschnitten nebst einer Flasche Wein hervor.
    „Die Schinkenbrote teilen wir“, sagte er. „Den Wein müssen wir leider aus der Flasche trinken, denn ich bin nicht mit einem Glas versehen.“
    Er sagte das so jovial und gutherzig, daß der Baron sich immer sicherer zu fühlen begann. Die Brote wurden zwischen ihnen geteilt, und als die Flasche geöffnet war, bemerkte der Baron, daß der Fremde von der besten und wohl auch teuersten Marke gekauft hatte.
    „Danke!“ sagte er, indem er die Flasche zurückgab. „Dieser Wein ist nicht von hier hüben.“
    „Nein, sondern von drüben.“
    „So haben Sie ihn über die Grenze gebracht?“
    „Ja.“
    „Aha! Hm!“
    „Wie, aha? Meinen Sie, daß ich ihn gepascht habe?“
    „Warum nicht?“
    „Das habe ich nicht nötig. Würde sich auch nicht

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