72 Tage in der Hoelle
Dokumentarfilmen zu verschiedenen Jahrestagen der Katastrophe mit, doch dabei war ich stets darauf bedacht, Fremden gegenüber nicht zu viel von mir preiszugeben. Alles, was die Öffentlichkeit wissen musste, war nach meiner Überzeugung in Überleben ausgezeichnet dargestellt. Das Buch konzentrierte sich fast ausschließlich auf den Tatsachenbericht über unser Martyrium; welche inneren Kämpfe und Gefühlswallungen meine Triebkraft zum Überleben waren, ging daraus nicht hervor. Aber ich mochte solche Dinge nicht allzu weit offenlegen. Ich überließ dem Leser die Dramatik, das Entsetzen und das Abenteuer. Die intimsten, schmerzvollsten Erinnerungen behielt ich für mich.
Im Laufe der Jahre traten Literaturagenten und Verleger mehr als einmal mit der Frage an mich heran, ob ich die Geschichte nicht noch einmal aus meiner ganz persönlichen Sicht erzählen wollte. Ich lehnte jedes Mal ab. Diese Menschen hielten mich für einen Helden, und ich wusste ganz genau, dass ich die Katastrophe als inspirierendes Erlebnis darstellen sollte, als Zeugnis von Triumph und Ausdauer. Aber das ging an der Sache vorbei. Ich war kein Held. Ich hatte ständig Angst gehabt, war immer schwach und verwirrt gewesen, immer ohne Hoffnung. Die Erinnerung an die Katastrophe – unser unanständiges Leiden, der Tod so vieler unschuldiger Menschen – beschwor in mir kein Gefühl von Triumph oder Ehre herauf. Unsere Geschichte mag Millionen Menschen auf der ganzen Welt beeindruckt haben, aber für mich waren jene Monate in den Bergen eine Zeit des gebrochenen Herzens, des Entsetzens und unwiederbringlicher Verluste. Die Katastrophe war nichts, was man feiern könnte. Man musste sie hinter sich lassen, und darum habe ich mich bemüht: Ich habe mein Leben mit den Reichtümern von Freundschaft und Familie ausgefüllt, sodass all die zerbrochenen Teile meines Daseins unter der lebenslangen Ansammlung von Glück und Liebe begraben wurden.
Damit war ich zufrieden. Ich will damit nicht sagen, dass ich meine Vergangenheit geleugnet hätte – noch heute berühren mich die Erinnerungen an die Anden jeden Tag. Ich wollte nur verhindern, dass Trauer und Leid meine Zukunft prägten. Damit befolgte ich den Rat, den mein Vater mir nach unserer Rettung gab. Schau nach vorn, Nando , sagte er. Lass nicht zu, dass dies zum Wichtigsten wird, was dir jemals in deinem Leben zugestoßen ist . Ich wollte nicht mein ganzes Leben lang der Überlebende sein. Ich wollte nicht, dass die Katastrophe mein Leben definierte. Ich lernte aus dem Martyrium, was es zu lernen gab, genoss die Freundschaften, die daraus erwachsen waren, und ehrte immer das Andenken an die Toten. Ich konnte unsere Erlebnisse allerdings nicht verherrlichen oder verklären, und ganz sicher hatte ich kein Bedürfnis, in den düsteren Erinnerungen mit jener unverbrüchlichen Ehrlichkeit zu wühlen, die man braucht, um ein Buch zu schreiben.
Warum habe ich mich dann nach über dreißig Jahren dennoch bereitgefunden, das Buch zu schreiben, das Sie jetzt in Händen halten? Die Antwort geht auf das Jahr 1991 und einen Anruf eines gewissen Juan Cintron zurück. Cintron organisierte in Mexico City eine Konferenz für junge Firmeninhaber und war zu der Ansicht gelangt, meine Geschichte eigne sich hervorragend für einen Vortrag zum Thema Motivation auf seiner Veranstaltung. Also machte er mich telefonisch in Montevideo ausfindig und fragte mich, ob ich den Eröffnungsvortrag halten wollte. Ich hatte nicht die Absicht, meine Erlebnisse in ermunternde Worte zu verpacken, und so lehnte ich höflich ab. Juan jedoch gab sich damit nicht zufrieden. Er rief mich immer wieder an und bat mich, mir die Sache noch einmal zu überlegen. Schließlich kam er sogar nach Montevideo, um mich persönlich zu bitten. Von seiner Hartnäckigkeit und Begeisterung beeindruckt, gab ich schließlich nach und sagte zu, den Vortrag zu halten.
In den folgenden Monaten bemühte ich mich, einen Vortrag nach Cintrons Vorstellungen auszuarbeiten. Er hatte mich gebeten, die Geschichte daraufhin abzuklopfen, welche Lehren sie für ehrgeizige Jungunternehmer enthielt, die mit neuen Einsichten und Ideen vorwärtskommen wollten. Es ging also um Führungsqualitäten, Innovation, Teamarbeit und kreative Problemlösungen. Er hatte mich gebeten, die Darstellung knapp und prägnant auf den Punkt zu bringen. Die Zuhörer, so erklärte er, seien viel beschäftigte, ungeduldige Menschen.Wenn es zu langsam vorangehe, würden sie nicht bei der Stange
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