Das Leben Findet Heute Statt
Vorwort
Wir haben Angst, im Leben nicht genug zu bekommen. Wer allein lebt, sucht die perfekte Beziehung. Wer einen Partner hat, schielt danach, ob nicht noch was Besseres im Angebot ist. So jedenfalls hörte sich die Antwort des 2 8-Jährigen an, den ich fragte, warum er denn seine Freundin nicht heirate, mit der er seit acht Jahren zusammenlebte: «Es könnte ja noch was Interessanteres kommen!», dachte er womöglich. Arbeiter und Angestellte träumen sich vom Heute in den Urlaub. Dort erst könne man endlich richtig leben, meinen sie. Und wer ohne Arbeit ist, sucht nicht nur eine Anstellung. Es muss jetzt sofort der Traumjob her. Und der perfekte Chef. Oder man möchte selbst endlich einer sein. Und wer es dann irgendwie bis oben geschafft hat, findet – wie könnte es anders sein –, dass es die da unten viel besser haben.
Nur da, wo wir gerade leben, können wir nicht zufrieden sein. Das Gras auf der anderen Seite des Zauns ist immer grüner. Die anderen haben es stets besser. Wenn man doch auch so viel Geld besäße! Wenn man doch auch so viel Glück auf seiner Seite hätte! Wenn man doch auch so groß oder so attraktiv, so intelligent oder so tatkräftig wäre wie der Nachbar oder Kollege – ja wenn, dann würde man selbst auch richtig leben können und auch zufrieden sein.
So hangeln wir uns von Unzufriedenheit zu Unzufriedenheit.Wer sagt, es gehe ihm gut, den treffen entgeisterte Blicke. Wir sind heutzutage gestresst oder genervt oder haben immer das Gefühl, noch nicht ganz am Ziel unserer Träume zu sein. Wer einfach glücklich ist, wird verdächtigt, keine Ziele zu haben. Oder gar keine Hoffnung. Es gibt ja noch so vieles, was man machen könnte. Lernen müsste. Erfahren haben müsste. Sehen müsste. Wo gibt es denn so was? Einfach in den Tag hinein leben und gelassen tun, was einem der Augenblick aufträgt?
In meinem Leben gibt es das. Seit 30 Jahren bin ich Kapuziner. Der Orden ist in Deutschland nicht mehr sehr bekannt. Unsere Wurzeln liegen in Italien. Wir gehen auf den heiligen Franziskus von Assisi zurück. Heute bin ich einer von etwa 160 Brüdern in Deutschland. Die Lebenseinstellung der Kapuziner hat mich schon als junger Mann so fasziniert, dass ich gleich nach dem Abitur ins Kloster eingetreten bin. Mir war mein Ziel klar. Manche haben mich gewarnt: «Du hast ja noch gar nichts vom Leben gehabt!» Darauf parierte ich, dass ich in einer Gemeinschaft mit einer solchen Tradition und einer so kraftvollen Spiritualität schon genügend gute Erfahrungen sammeln würde. Wieder andere wollten von mir wissen, was ich denn mit dem Ordenseintritt erreichen wolle. Denen antwortete ich, dass ich schon vor meinem Schulabschluss etwas Todernstes gelernt hatte. Zum ersten Mal – und zum Schrecken meiner Mitabiturienten – hatte ich davon bei meiner Rede zu diesem wichtigen Anlass gesprochen: Aus unserem Jahrgang waren zwei Mitschüler durch Unfälle verstorben, ein dritter brach aufgrund einer ernsthaften psychischen Krankheit zusammen und konnte nicht an den Prüfungen teilnehmen. Das ließ mich innehalten und in mir die Frage aufkommen: Wenn die nur gelebt haben, um Abitur zu machen, haben die dann nicht umsonst gelebt? Wenn der Motor unseres Lebens nur das Morgen ist, das wir erreichen wollen, verpassen wir hierund jetzt wichtige Momente. Der Reichtum unseres Lebens kommt nicht erst, sondern er ist schon da, und wir können nur in diesem Bewusstsein handeln. Wenn ich es richtig betrachte, wurde schon damals der Grundstein zu meiner Lebenseinstellung gelegt, und zu diesem Buch: Das Leben fängt nämlich wirklich heute an! Sofort.
Jetzt erst fällt mir auf, wie sinnlos lange wir uns damals im Religionsunterricht mit der Behauptung des Philosophen Ludwig Feuerbach, die Religion vertröste den Menschen auf ein Jenseits, gequält haben. Damals habe ich noch nicht gesehen, was aber auch da schon gültig war: wie sehr sich Menschen selbst auf ein Später verlegen, damit sie heute nicht alles geben müssen. Nicht ohne Grund. Wer seine Kräfte spart, wird gelobt. Wer die Tricks kennt, um seine Kraft effizienter einzusetzen, erntet Anerkennung. Diplomarbeiten werden munter zusammengegoogelt, damit man heute spart, um morgen, bald, woanders oder sonst wie zu zeigen, was man kann.
Das ist nicht neu. Der Mensch war immer schon bequem. Denn das Wasser windet sich auf dem leichtesten Weg zum Meer. Was die meisten an diesem Bild übersehen: Es fließt Stufe um Stufe tiefer. Ein Wissenschaftler würde
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