72 Tage in der Hoelle
Überlebender, an den ich besonders oft denke, ist Roy Harley. Seit über dreißig Jahren bedrückt es mich, wie er in früheren Berichten über die Katastrophe dargestellt wurde, insbesondere in dem großartigen Buch Überleben von Piers Paul Read. Sogar die Art, wie ich selbst ihn in den Bergen manchmal behandelte, ist mir heute ein Rätsel. Es stimmt zwar, dass er in den Anden ein äußerst schwaches Nervenkostüm hatte, aber andererseits war er auch einer der Jüngsten, und er stand näher an der Schwelle zum Tod als alle anderen Überlebenden. Dass die Gefühle bei ihm so dicht unter der Oberfläche lagen, heißt nicht, dass er schwächer oder ängstlicher gewesen wäre als wir anderen. Verängstigter als ich konnte niemand gewesen sein, und beim Verfassen dieses Buches wurde mir sogar klar, dass meine eigene Angst die Triebkraft hinter meiner Wut und Frustration über Roy war. Überleben stützte sich vorwiegend auf ausführliche Gespräche mit jedem einzelnen Überlebenden, und ich bedaure es sehr, dass wir vermutlich alle ein zu simples Bild von Roys ganz besonderen Schwierigkeiten zeichneten. Aber damals waren wir jung, und alles erschien uns viel einfacher. In 72 Tage in der Hölle habe ich mich bemüht, die Dinge zurechtzurücken: In meinen Augen war Roy Harley kein Feigling oder Schwächling. Er war einer von uns und wird es immer bleiben: ein Überlebender, ein zuverlässiger Freund und ein wichtiger Teil unseres Kreises. Im Laufe der Jahre hat er sich immer wieder als aufrichtiger, starker Mensch erwiesen, und er gehört zu denen, auf die ich mich stets verlassen kann. Heute ist Roy als erfolgreicher Ingenieur bei einem großen Farbenhersteller tätig. Er wohnt mit seiner Frau Cecilia – sie ist die Schwester von Robertos Frau Laura – in Montevideo und hat zwei reizende Töchter sowie einen Sohn, der mittlerweile bei den Old Christians spielt. Roy, ein großer Anhänger körperlicher Fitness, ist kaum gealtert; wir anderen beneiden ihn um seinen flachen Bauch und die kräftigen Muskeln, denn bei den meisten von uns ist die Muskulatur im Laufe der Jahre weicher und der Bauch größer geworden.
Auch die Berichte über Alfredo »Pancho« Delgado, einen weiteren Überlebenden, erfordern eine Klarstellung. In Überleben ist er ein intriganter, unaufrichtiger Charakter, der sich hinter unserem Rücken und häufig auf Kosten anderer um Annehmlichkeiten für sich selbst bemühte. Dass Pancho solche Dinge tat, steht außer Zweifel, aber eigentlich machten wir es alle nicht anders. Jeder handelte manchmal egoistisch – bemühte sich, mehr als die ihm zustehenden Essens- oder Zigarettenration zu ergattern, sich vor der Arbeit zu drücken oder sich die wärmsten Kleidungsstücke und den angenehmsten Schlafplatz zu sichern. Wir waren alle keine Heiligen und überlebten nicht deshalb, weil wir perfekte Menschen gewesen wären, sondern weil unsere Besorgnis füreinander in der Summe viel schwerer wog als die ganz natürliche Selbstsucht. Warum Pancho in dieser Hinsicht besonders auffiel, ist mir ein Rätsel. Er war mit einem scharfen Verstand und einer natürlichen Beredsamkeit gesegnet, und vielleicht ärgerten wir uns einfach darüber, dass er mit seinen Regelverstößen irgendwie immer davonkam. Jedenfalls ist es nicht gerechtfertigt, Pancho in diesem schlechten Licht darzustellen. In Wirklichkeit war auch er einer von uns und wird es bleiben, und ich schätze ihn genauso wie meine anderen Freunde. Pancho wohnt nicht weit von mir in Carrasco und ist ein bekannter Anwalt. Er heiratete seine große Liebe Susana und hat mit ihr zwei Söhne und zwei Töchter. Alfredo, sein ältester Sohn, ist Kapitän der First XV bei den Old Christians.
Ramon »Moncho« Sabella hat nie geheiratet und ist der unverbesserliche Junggeselle in unserer Gruppe.Trotz unserer ständigen Bemühungen, ihn mit vielen passenden Kandidatinnen bekannt zu machen, blieb er der vergnügte Single. Er versichert uns immerzu, das Leben mache ihm einfach zu viel Spaß, als dass er sesshaft werden wolle. Wenn er sich nicht auf Partys am Strand von Punta del Este oder in den Clubs von Montevideo herumtreibt, arbeitet er als Immobilienentwickler. Außerdem gehört ihm zusammen mit Fito Strauch eine Farm, auf der Straußenvögel gezüchtet werden. Moncho wirft immer noch gern ein Auge auf schöne Frauen und ist ein guter Freund und stets ein angenehmer Gesellschafter.
Fito Strauch war in den Anden äußerst wichtig für uns. Keiner – am
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