72 Tage in der Hoelle
Gespräch. »Vor ein paar Jahren habe ich mit dem Auto rückwärts aus meiner Einfahrt gesetzt«, sagte sie. »Ich wusste nicht, dass meine zweijährige Tochter hinter dem Wagen stand. Ich habe sie überfahren, sie war tot. In diesem Augenblick ist mein Leben stehen geblieben. Ich konnte nichts mehr essen, nicht mehr schlafen, an nichts anderes denken als an diesen Augenblick. Ich habe mich mit Fragen gefoltert. Warum stand sie dort? Warum habe ich sie nicht gesehen? Warum habe ich nicht besser aufgepasst? Und vor allem: Warum ist das passiert? Seit jenem Augenblick lähmen mich Schuldgefühle und Trauer, und meine ganze übrige Familie leidet darunter. Ihre Geschichte hat mir gezeigt, dass ich Unrecht hatte. Man kann auch dann leben, wenn man leidet. Ich weiß, dass es weitergehen muss. Ich muss für meinen Mann und die anderen Kinder leben. Dazu muss ich die Kraft finden, obwohl ich unendlich leide. Ihre Geschichte gibt mir den Glauben, dass es möglich ist.«
Ohne ein Wort zu sagen, schloss ich sie in die Arme. In diesem Augenblick nahm ein formloser Gedanke, der schon seit längerem in meinem Kopf herumschwirrte, messerscharfe Konturen an: Ich erkannte, dass meine Geschichte ihre Geschichte ist – es ist die Geschichte eines jeden, der sie hört. Diese Frau hatte nie den schneidenden, eisig kalten Wind gespürt. Sie war nie in großer Höhe durch einen Schneesturm getorkelt und hatte nicht entsetzt zusehen müssen, wie ihr hungernder Körper sich auflöste. Aber konnte es einen Zweifel geben, dass sie nicht genauso gelitten hatte wie ich? Ich hatte immer geglaubt, meine Geschichte sei etwas Einzigartiges, etwas so Extremes und Entsetzliches, dass nur diejenigen, die dabei waren, die Erlebnisse wirklich verstehen konnten. Aber in ihrem Kern – dem Kern der menschlichen Gefühle – ist es die bekannteste Geschichte der Welt. Jeder von uns ist irgendwann einmal mit Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung konfrontiert. Jeder erlebt Trauer, Verlassenheitsgefühle und verheerende Verluste. Und jeder muss früher oder später dem unausweichlich näher kommenden Tod ins Auge sehen. Als ich diese traurige Frau umarmte, bildete sich auf meinen Lippen ein Satz. »Jeder von uns hat seine eigenen Anden«, sagte ich zu ihr.
Heute, nach über zehn Jahren mit öffentlichen Vorträgen, und nachdem ich immer wieder miterleben konnte, wie meine Geschichte bei Zuhörern auf der ganzen Welt ihren Widerhall findet, weiß ich es ganz genau: Die Verbindung, die ich zu meinem Publikum spüre, hat ihre Wurzeln in etwas Tieferem als nur in der Bewunderung für das, was ich getan habe, um am Leben zu bleiben. Die Menschen erkennen in meiner Geschichte ihre eigenen Mühen und Ängste wieder, real geworden vor einem surrealen Hintergrund und in epischer Größe. Die Geschichte lässt sie schaudern, macht ihnen aber auch Mut: Sie sehen, dass selbst ein ganz normaler Mensch im Angesicht der schlimmsten Qualen und entgegen allen Wahrscheinlichkeiten durchhalten kann. Es bereitet mir tiefe Befriedigung, dass so viele Menschen in dem, was ich zu sagen habe, Kraft und Trost finden, aber sie haben mir auch viel zurückgegeben. Sie haben mir gezeigt, dass es mehr als eine Geschichte der Trauer und sinnlosen Tragödie gibt. Sie haben mein Leiden als Quelle für Inspiration und Ermutigung genutzt, und damit haben sie mir geholfen, meine verwundete Erinnerung heilen zu lassen. Ich habe erkannt, dass meine Mutter, meine Schwester und die anderen nicht vergeblich gestorben sind und dass unser Leiden sich zu etwas Wichtigem summiert, zu einer Art Weisheit, welche die Herzen der Menschen auf der ganzen Welt berühren kann.
Auch ich bin von den Zuhörern gerührt. Aus der Verbindung, die ich zu ihnen spüre, beziehe ich so viel Liebe und Erfüllung, als wären wir alle in einem Netz des gegenseitigen Verstehens verbunden, als würde jeder, der sich durch meine Geschichte angerührt fühlt, mein Leben bereichern und erweitern. Heute bin ich selbst verblüfft, dass ich früher nicht über die Anden sprechen mochte, denn mittlerweile ist es mir zur Leidenschaft geworden, meine Geschichte möglichst vielen Menschen mitzuteilen, und aus dieser Leidenschaft erwuchs dann auch der Wunsch, das vorliegende Buch zu schreiben. Im Herzen habe ich damit schon vor mehreren Jahren begonnen, und irgendwann war der richtige Zeitpunkt gekommen, um meine Gedanken zu Papier zu bringen. Es war eine bemerkenswerte Erfahrung – schmerzlich, freudig, erniedrigend, überraschend
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