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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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Tatsache auseinandersetzen, dass wir ganz unterschiedliche Menschen waren. Ich besaß weder seinen Scharfblick noch seinen realistischen Behauptungswillen. Wir betrachteten die Welt auf höchst unterschiedliche Weise. Für meinen Vater war das Leben etwas, das man sich mit harter Arbeit, sorgfältiger Planung und reiner Willenskraft selbst erschafft. Ich sah in der Zukunft eine Geschichte, die sich langsam entwickelt, mit einer Handlung und verschiedenen Handlungssträngen, die sich winden und wenden, sodass man auf dem eigenen Lebensweg nie allzu weit vorausblicken kann. Nach meiner Überzeugung musste man das Leben entdecken, wenn es zu gegebener Zeit auf einen zukam. Ich war nicht faul oder selbstverliebt, aber ich träumte gern. Die meisten meiner Freunde wussten, wie ihre Zukunft aussah: Sie würden im Familienunternehmen mitarbeiten oder denselben Beruf ergreifen wie ihre Väter. Allgemein rechnete man damit, dass auch ich es so machen würde. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, mein ganzes Leben lang Eisenwaren zu verkaufen. Ich wollte reisen. Ich sehnte mich nach Abenteuer, Spannung und Kreativität. Vor allem aber träumte ich davon, Rennfahrer zu werden wie mein Idol Jackie Stewart, der dreimalige Weltmeister und vielleicht beste Rennfahrer aller Zeiten. Wie Jackie, so wusste auch ich, dass es bei Autorennen um mehr geht als nur um Pferdestärken und brutale Geschwindigkeit, dass Balance und Rhythmus entscheidend sind, dass der Einklang zwischen Fahrer und Fahrzeug etwas Poetisches hat. Ich begriff, dass ein großer Rennfahrer nicht nur ein Draufgänger ist: Er ist ein Virtuose mit dem notwendigen Gespür und der Begabung, die Grenzen seines Wagens auszuloten, der Gefahr zu trotzen und die Gesetze der Physik auszureizen, während er auf dem schmalen Grat zwischen Kontrolle und Katastrophe wandelt. Das ist die Magie des Motorsports, und ich träumte davon, ein solcher Rennfahrer zu werden. Wenn ich das Jackie-Stewart-Poster in meinem Zimmer anstarrte, war ich überzeugt, dass er mich verstehen würde. Ich träumte davon, er würde in mir einen Seelenverwandten erkennen.
    Aber solche Träume erschienen unerfüllbar. Als die Zeit gekommen war, ein geeignetes College auszuwählen, entschied ich mich für die Landwirtschaftsschule, denn dorthin gingen auch die meisten meiner Freunde. Als mein Vater davon erfuhr, zuckte er die Achseln, lächelte und sagte: »Nando, die Familien deiner Freunde haben Farmen und Viehzuchtbetriebe. Wir haben Eisenwarengeschäfte.« Es fiel ihm nicht schwer, mich zu einer Änderung meines Entschlusses zu überreden. Am Ende tat ich das Sinnvollste: Ich ging auf die Wirtschaftsschule, ohne mir ernsthaft Gedanken darüber zu machen, was diese Schule für mich bedeutete und wohin meine Entscheidung führen würde. Ich würde einen Abschluss machen oder auch nicht. Ich würde die Eisenwarengeschäfte weiterführen oder auch nicht. Wie mein Leben aussah, würde sich zeigen, wenn es so weit war. Bis dahin war ich den Sommer über einfach nur Nando: Ich spielte Rugby, stieg mit Panchito den Mädchen nach, raste mit meinem kleinen Renault über die Strandstraßen von Punta del Este, ging zu Partys und lag in der Sonne. Ich lebte für den Augenblick, ließ mich treiben, wartete, dass die Zukunft sich offenbarte, und war stets gern bereit, anderen den Vortritt zu lassen.
     
     
    Als die Fairchild über den Planchón-Pass flog, musste ich an meinen Vater denken. Er hatte uns am Flughafen in Montevideo abgesetzt. »Viel Spaß«, sagte er, »ich hole euch am Montag wieder ab.« Er küsste meine Mutter und meine Schwester, umarmte mich herzlich und fuhr dann zurück in sein Büro, in jene geordnete, berechenbare Welt, in der er sich wohl fühlte.Während wir in Chile unseren Spaß hatten, würde er das tun, was er immer tat: Probleme lösen, die Dinge am Laufen halten, hart arbeiten, für uns sorgen. Aus Liebe zu seiner Familie hatte er sich im Geist eine Zukunft konstruiert, in der wir alle sicher, glücklich und immer zusammen sein würden. Er hatte gut geplant und alle Details berücksichtigt. Die Parrados würden für alle Zeiten glückliche Menschen sein. Daran glaubte er ganz fest, und wir hatten starkes Vertrauen zu ihm; wie konnten wir jemals an ihm zweifeln?
    »Bitte schnallen Sie sich an«, sagte der Steward. »Vor uns liegen Turbulenzen.« Wir befanden uns über dem Planchón-Pass. Panchito saß immer noch am Fenster, aber wir flogen durch dichten Nebel, sodass es nicht viel zu sehen

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