72 Tage in der Hoelle
Aussteigen aus dem Zug direkt vor seiner Ladentür. Als Seler dann die Verantwortung für die Firma übernahm, hatten sich die Verhältnisse bereits geändert. Busse waren als beliebtestes Transportmittel an die Stelle der Züge getreten, und der Busbahnhof war weit von dem Laden entfernt. Noch schlimmer wurde alles, weil das Maschinenzeitalter die ländlichen Gebiete Uruguays erreicht hatte. Lastwagen und Traktoren machten die Bauern sehr schnell unabhängig von Pferden und Maultieren, und das führte auch zu einem drastischen Rückgang der Nachfrage nach Sätteln und Zaumzeug, mit denen mein Vater handelte. Der Umsatz sank, und es sah aus, als werde er bald den Laden schließen müssen. Dann versuchte es Seler mit einem Experiment: Er räumte seine Verkaufsfläche zur Hälfte von landwirtschaftlichen Waren und bot dort stattdessen Eisenwaren an – Schrauben und Muttern, Nägel, Geräte und Scharniere. Sofort ging es mit den Geschäften aufwärts. Wenige Monate später hatte er den Landwirtschaftsbedarf völlig aufgegeben und alle Regale mit Eisenwaren gefüllt. Er lebte immer noch am Rand der Armut und schlief in einem Zimmer über dem Laden auf dem Fußboden, aber als der Umsatz weiter stieg, wusste er, wo seine Zukunft lag.
Noch rosiger wurde diese Zukunft 1945, als Seler meine Mutter Eugenia heiratete. Sie war ebenso ehrgeizig und selbstständig wie er, und von Anfang an waren sie mehr als nur ein Ehepaar: Sie wurden zu einem schlagkräftigen Team, das eine gemeinsame, leuchtende Vorstellung von der Zukunft hatte.Wie mein Vater, so hatte auch Eugenia eine schwierige Jugend hinter sich. Sie war 1939, mit 16 Jahren, mit ihren Eltern und der Großmutter aus der Ukraine ausgewandert, um den Wirren des Zweiten Weltkrieges zu entgehen. Ihre Eltern waren in der Ukraine Imker gewesen; sie ließen sich in Uruguay auf dem Land nieder, wo sie sich mit Bienenzucht und dem Verkauf von Honig über Wasser hielten. Es war ein bescheidenes, hartes Leben und bot nicht viel für ein junges Mädchen. Deshalb zog Eugenia mit zwanzig nach Montevideo, wo sie sich eine bessere Zukunft versprach. Als sie meinen Vater heiratete, arbeitete sie im Büro eines großen medizinischen Labors in der Innenstadt, und anfangs half sie nur in ihrer Freizeit in dem Eisenwarenladen. In der Anfangszeit ihrer Ehe hatten sie zu kämpfen. Das Geld war so knapp, dass sie sich keine Möbel leisten konnten, das heißt, ihr gemeinsames Leben begann in einer leeren Wohnung. Aber irgendwann zahlte sich die harte Arbeit aus, und das Eisenwarengeschäft warf Gewinn ab. Als 1947 meine ältere Schwester Graciela geboren wurde, konnte meine Mutter die Stelle in dem Labor aufgeben und bei meinem Vater Vollzeit mitarbeiten. Ich kam 1949 zur Welt, drei Jahre später folgte Susy. Eugenia war mittlerweile zu einer treibenden Kraft des Familienunternehmens geworden; mit Fleiß und Geschäftstüchtigkeit sicherte sie uns einen sehr angenehmen Lebensstandard. Doch obwohl ihr die Arbeit sehr wichtig war, kamen Haushalt und Familie bei meiner Mutter nie zu kurz. Als ich zwölf war, verkündete sie eines Tages, sie habe in Carrasco, einem der besten Wohnviertel von Montevideo, das ideale Haus für uns gefunden. Ich werde nie vergessen, welches Glück aus ihren Augen sprach, als sie es beschrieb: es sei ein modernes, zweistöckiges Haus am Strand mit großen Fenstern, geräumigen, hellen Zimmern, großen Rasenflächen und einer luftigen Veranda. Das Haus hatte eine wunderschöne Aussicht aufs Meer, und die gefiel meiner Mutter besser als alles andere. Ich weiß noch, welche Begeisterung in ihrer Stimme lag, als sie sagte: »Jetzt können wir den Sonnenuntergang über dem Wasser sehen!« In ihren blauen Augen glänzten Tränen. Sie hatte so klein angefangen, und jetzt hatte sie ihr Traumhaus gefunden, einen Ort, der ein Zuhause für ein ganzes Leben sein konnte.
Eine Adresse in Carrasco ist in Montevideo ein Statussymbol, und in dem neuen Haus lebten wir unter den oberen zehntausend der uruguayischen Gesellschaft. Unsere Nachbarn waren die bekanntesten Industriellen, Freiberufler, Künstler und Politiker des Landes. Es war ein Umfeld von Status und Macht, meilenweit entfernt von der bescheidenen Welt, in die meine Mutter hineingeboren worden war. Sie muss eine große Befriedigung empfunden haben, als sie dort ein Plätzchen für uns gefunden hatte. Anderseits stand sie mit beiden Beinen fest auf der Erde und ließ sich weder von der Nachbarschaft noch von der Tatsache, dass
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