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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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Gustavo?«, beharrte ich. »Bitte!«
    Gustavo blickte mir in die Augen. Offenbar erkannte er, dass ich für die Antwort bereit war. »Nando, du musst jetzt stark sein«, sagte er. »Deine Mutter ist tot.«
    Wenn ich heute an diesen Augenblick zurückdenke, kann ich nicht sagen, warum die Nachricht mich nicht völlig zerstörte. Nie hatte ich so dringend die Umarmungen meiner Mutter gebraucht, und jetzt erfuhr ich, dass ich ihre Nähe nie wieder spüren würde. Einen kurzen Augenblick lang überkamen mich Trauer und Panik in derart heftiger Weise, dass ich fürchtete, ich würde den Verstand verlieren, aber dann formte sich in meinem Kopf ein Gedanke. Ich hörte ihn in einer so klaren, so von allem losgelösten Stimme, dass es war, als flüsterte mir jemand ins Ohr. Weine nicht , sagte die Stimme. Tränen verschwenden Salz. Und Salz wirst du noch zum Überleben brauchen.
    Ich war verblüfft, mit welcher Ruhe der Gedanke kam, und erschrocken über die kaltblütige Stimme, die ihn aussprach. Nicht um meine Mutter weinen? Nicht weinen um den größten Verlust in meinem Leben? Ich bin in den Anden abgestürzt, ich friere, meine Schwester liegt vielleicht im Sterben, mein Schädel ist gebrochen. Und ich sollte nicht weinen?
    Wieder sprach die Stimme. Weine nicht .
    »Das ist noch nicht alles«, sagte Gustavo. »Panchito ist tot. Guido auch. Und viele andere.«Voller Unglauben hob ich schwach den Kopf.Wie konnte das passieren? Mir stieg ein Schluchzen in der Kehle hoch, aber noch bevor ich mich meiner Trauer und dem Schock ausliefern konnte, sprach die Stimme wieder, lauter dieses Mal. Sie sind alle fort. Sie alle gehören zu deiner Vergangenheit. Vergeude deine Kraft nicht mit Dingen, die du nicht ändern kannst. Schau nach vorn. Sei vernünftig. Du wirst überleben.
    Gustavo kniete immer noch über mir. Ich wollte ihn packen, ihn schütteln, ihn sagen lassen, dass alles eine Lüge war. Dann fiel mir meine Schwester ein, und ohne dass ich mich anstrengen musste, tat ich, was die Stimme gesagt hatte: Ich ließ die Trauer um meine Mutter und meine Freunde in die Vergangenheit gleiten, und mein Geist wurde von einer Welle der Angst um meine Schwester überrollt. Dumpf starrte ich Gustavo eine Zeit lang an, dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und stellte die unvermeidliche Frage.
    »Gustavo, wo ist Susy?«
    »Sie liegt da drüben«, erwiderte er und zeigte auf den hinteren Teil des Flugzeugs, »aber sie ist schwer verletzt.« Plötzlich änderte sich alles in mir. Meine eigenen Verletzungen waren mir egal. Ich wollte nur noch meine Schwester sehen. Mühsam kam ich auf die Beine und versuchte zu gehen. Aber die Schmerzen in meinem Kopf ließen mich taumeln, und ich plumpste unsanft wieder auf den Boden. Einen kurzen Augenblick ruhte ich mich aus, dann rollte ich mich auf den Bauch und robbte auf den Ellenbogen zu meiner Schwester. Um mich herum lagen zerdrückte Plastikbecher, zerfledderte Zeitschriften, verstreute Spielkarten und Taschenbücher. Nicht weit vom Cockpit lagen Flugzeugsitze kreuz und quer übereinander, und während ich langsam weiterkroch, sah ich beiderseits des Mittelganges die abgebrochenen Metallklammern, mit denen die Sitze am Boden befestigt gewesen waren. Einen Augenblick lang malte ich mir aus, welche ungeheure Kraft notwendig gewesen war, um die Sitze aus einer derart soliden Verankerung zu reißen.
    Zentimeterweise näherte ich mich Susy, aber ich war sehr schwach und kam nur langsam voran. Schon bald verließen mich die Kräfte. Ich ließ den Kopf zum Ausruhen auf den Boden fallen, aber dann spürte ich Arme, die mich hochhoben und weitertrugen. Jemand half mir, den hinteren Teil der Maschine zu erreichen, und dort lag Susy auf dem Rücken. Auf den ersten Blick schien sie nicht allzu schwer verletzt zu sein. An den Augenbrauen erkannte ich Blutspuren, aber offenbar hatte ihr irgendjemand das Gesicht gewaschen. Die Haare waren glatt nach hinten gekämmt. Jemand hatte sie getröstet. Sue hatte den neuen Mantel an, den sie sich extra für die Reise gekauft hatte; es war ein schöner Mantel aus Antilopenleder, und sein weicher Pelzkragen strich in dem kalten Wind über ihre Wange.
    Mit der Hilfe meiner Freunde konnte ich mich neben sie legen. Ich schlang die Arme um sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich bin bei dir, Susy. Ich bin’s, Nando.« Sie drehte sich um und sah mich mit ihren sanften, karamellfarbenen Augen an, aber ihr Blick war leer, und ich war mir nicht sicher, ob sie mich überhaupt

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