72 Tage in der Hoelle
gab. Ich dachte an die Mädchen, die Panchito und ich auf unserer letzten Chilereise kennen gelernt hatten.Wir waren mit ihnen zu dem Strandlokal von Viña del Mar gefahren und erst so spät zurückgekommen, dass wir am nächsten Morgen fast unser Rugbymatch verpasst hätten. Sie hatten zugesagt, sich dieses Jahr wieder mit uns zu treffen, und wollten uns am Flughafen abholen, aber der unfreiwillige Aufenthalt in Mendoza hatte unseren Zeitplan durcheinander gebracht, und ich hoffte, dass wir sie noch wiederfinden würden. Das wollte ich gerade zu Panchito sagen, da kippte das Flugzeug plötzlich zur Seite. Dann spürten wir ein heftiges Rumpeln, als die Maschine hart auf einzelne Turbulenzen traf. Ein paar Kameraden brüllten und jubelten, als säßen sie in der Achterbahn.
Ich beugte mich nach vorn und blickte beruhigend zu Susy und meiner Mutter hinüber. Meine Mutter wirkte besorgt. Sie hatte das Buch, das sie gerade las, beiseitegelegt und hielt die Hand meiner Schwester. Ich wollte ihnen sagen, dass sie sich keine Sorgen machen sollten, aber noch bevor ich den Mund öffnen konnte, schien der Boden aus dem Rumpf zu brechen, und als die Maschine plötzlich etwa hundert Meter weit absackte, rebellierte mein Magen.
Jetzt wurde das Flugzeug von den Turbulenzen hin und her geworfen. Während die Piloten sich darum bemühten, die Fairchild zu stabilisieren, spürte ich Panchitos Ellenbogen in meiner Körperseite.
»Sieh dir das an, Nando«, sagte er. »Ist das richtig, dass wir so dicht an den Bergen sind?«
Ich beugte mich hinüber und sah durch das kleine Fenster. Wir flogen in einer dichten Wolkendecke, aber durch ihre Lücken sah ich, wie eine riesige Wand aus Felsen und Schnee vorüberhuschte. Die Fairchild wackelte heftig, und die schwankende Spitze der Tragfläche war keine zehn Meter von den schwarzen Gebirgshängen entfernt. Einen kurzen Augenblick starrte ich sie ungläubig an, dann heulten die Motoren auf, weil die Piloten verzweifelt zu steigen versuchten. Der Rumpf vibrierte so heftig, dass ich fürchtete, er würde in Stücke brechen. Meine Mutter und meine Schwester drehten sich um und sahen mich über die Sitzlehnen hinweg an. Einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke, dann erschütterte ein heftiges Zittern die Maschine. Man hörte das schreckliche Kreischen von schleifendem Metall. Plötzlich sah ich über mir den offenen Himmel. Kalte Luft fuhr mir ins Gesicht, und mit einer seltsamen Ruhe bemerkte ich, dass Wolken durch den Mittelgang wirbelten. Um darin einen Sinn zu finden, zu beten oder Angst zu empfinden, blieb keine Zeit. Alles geschah während eines einzigen Herzschlags. Dann wurde ich mit unglaublicher Kraft von meinem Sitz gerissen und nach vorn geschleudert, in völlige Dunkelheit und Stille.
2
Alles, was kostbar ist
»Hier, Nando, hast du Durst?«
Mein Mannschaftskamerad Gustavo Zerbino kroch neben mich und drückte mir einen Schneeball auf die Lippen. Der Schnee war kalt und brannte beim Schlucken im Hals, aber ich war so ausgedörrt, dass ich ihn in Klumpen hinunterwürgte und um mehr bettelte. Es war jetzt mehrere Stunden her, seit ich aus dem Koma erwacht war. Ich konnte wieder etwas klarer denken und hatte tausend Fragen. Als ich mit dem Schnee fertig war, winkte ich Gustavo näher heran.
»Wo ist meine Mutter?«, fragte ich. »Wo ist Susy? Geht es ihnen gut?«
Gustavos Gesicht verriet nichts. »Ruh dich aus«, sagte er, »du bist immer noch sehr schwach.« Er ging weg, und eine Zeit lang blieben alle auf Distanz. Immer wieder bettelte ich, sie sollten mir etwas über meine Angehörigen sagen, aber meine Stimme war nur ein heiseres Flüstern, und sie konnten leicht so tun, als hörten sie es nicht.
Bibbernd lag ich auf dem Boden des Flugzeugrumpfes, während die anderen sich um mich herum zu schaffen machten. Ich lauschte nach der Stimme meiner Schwester und sah mich nach dem Gesicht meiner Mutter um. Verzweifelt sehnte ich mich danach, ihr warmherziges Lächeln und ihre dunkelblauen Augen zu sehen, in ihre Arme geschlossen zu werden und zu hören, dass alles gut werden würde. Eugenia war der Mittelpunkt unserer Familie. Ihre Klugheit, ihre Stärke und ihr Mut waren das Fundament unseres Lebens, und jetzt brauchte ich sie so dringend, ja sie fehlte mir so sehr, dass mir das schlimmere Schmerzen zuzufügen schien als die Kälte oder das Pochen in meinem Kopf.
Als Gustavo wieder mit einem Schneeball zu mir kam, packte ich ihn am Ärmel.
»Wo sind sie,
Weitere Kostenlose Bücher