72 Tage in der Hoelle
erkannte. Sie rollte sich in meinen Arm, als ob sie mir noch näher sein wollte, aber dann stöhnte sie leise und entfernte sich von mir. So zu liegen, bereitete ihr Schmerzen, also ließ ich sie eine weniger unangenehme Position finden; dann umarmte ich sie noch einmal, legte meine Arme und Beine um sie, damit sie so gut wie möglich vor der Kälte geschützt war. Stundenlang lagen wir so zusammen. Die meiste Zeit war sie still, nur manchmal schluchzte oder stöhnte sie leise. Ab und zu rief sie nach unserer Mutter.
»Mama, bitte«, weinte sie dann, »mir ist kalt, Mama, lass uns nach Hause gehen.« Ihre Worte stachen mir ins Herz wie Pfeile. Susy war der kleine Liebling meiner Mutter, immer schon standen sich die beiden besonders nahe. Sie waren sich vom Wesen her so ähnlich – so sanft, geduldig und warmherzig, so unbeschwert in der Gegenwart des anderen. Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie jemals Streit gehabt hätten. Stundenlang waren sie zusammen, kochten, gingen spazieren oder redeten einfach nur. Oft saßen sie auf dem Sofa und steckten die Köpfe zusammen, flüsterten, nickten, lachten über ein Geheimnis, das keiner außer ihnen kannte. Ich glaube, meine Schwester hat meiner Mutter alles erzählt. Sie fragte meine Mutter bei allen wichtigen Dingen um Rat – wenn es um Freunde, die Schule, Kleidung, den Sinn und Zweck des Lebens und natürlich um Männer ging.
Susy hatte die kräftigen und doch weichen ukrainischen Gesichtszüge meiner Mutter und interessierte sich sehr für die Wurzeln unserer Familie in Osteuropa. Jeden Tag, wenn wir nach der Schule unseren café con leche tranken, bedrängte sie unsere Großmutter Lina, sie solle ihr Geschichten aus ihrem kleinen Heimatdorf erzählen: wie kalt es dort im Winter war, wie viel Schnee lag, wie die Dorfbewohner teilen und zusammenarbeiten mussten, um zu überleben. Sie begriff, welches Opfer Lina gebracht hatte, als sie nach Südamerika ausgewandert war, und diese Geschichten verschafften meiner Schwester offenbar das Gefühl, der Vergangenheit unserer Familie näher zu sein. Wie meine Mutter war Susy ein Familienmensch, aber eine Stubenhockerin war sie nicht: Sie hatte viele Bekannte, liebte Musik, Tanz und Partys, und so sehr sie auch an Montevideo und an ihrem Zuhause hing, so träumte sie doch immer davon, irgendwo anders hinzugehen. Mit sechzehn lebte sie ein Jahr als Austauschschülerin bei einer Familie in Florida, und dabei lernte sie die Vereinigten Staaten kennen und lieben. »Dort ist alles möglich«, sagte sie zu mir. »Du kannst dir irgendetwas erträumen und es dann Wirklichkeit werden lassen.« Ihr Traum war, an einem amerikanischen College zu studieren und danach in den USA zu bleiben. »Wer weiß?«, sagte sie dann, »vielleicht lerne ich dort einen Mann kennen und heirate – und werde am Ende noch eine richtige Amerikanerin!«
In jungen Jahren waren Susy und ich gegenseitig unsere Lieblings-Spielkameraden. Als wir älter waren, wurde ich zu ihrem verlässlichen Vertrauten. Sie weihte mich in ihre Geheimnisse ein, erzählte mir von ihren Hoffnungen und Sorgen. Ich weiß noch, wie sie sich ständig Sorgen wegen ihres Gewichtes machte – sie hielt sich für zu dick, was überhaupt nicht stimmte. Sie hatte breite Schultern und breite Hüften, aber sie war auch groß, schlank und gut proportioniert, mit dem kräftigen, ausgeprägten Körperbau einer Turnerin oder Schwimmerin. Aber ihre eigentliche Schönheit lag in den tiefen, klaren, hellbraunen Augen, ihrer zarten Haut und der Freundlichkeit und Kraft, die aus ihrem starken, liebenswürdigen Gesicht sprachen. Sie war jung, hatte noch nie einen ernsthaften Freund gehabt, und ich wusste, dass sie fürchtete, die Jungen würden sie nicht attraktiv finden. Aber wenn ich sie anschaute, sah ich nichts als Schönheit. Wie konnte ich sie davon überzeugen, dass sie ein Schatz war? Meine kleine Schwester Susy war mir vom Augenblick ihrer Geburt an kostbar gewesen, und als ich sie zum ersten Mal in den Armen hielt, wusste ich, dass es meine Aufgabe sein würde, sie zu beschützen. Jetzt lag ich mit ihr hier auf dem Boden des Flugzeugrumpfes, und mir fiel ein, wie wir einmal am Strand gewesen waren.Wir waren beide noch klein: Susy noch ein Kleinkind, ich fünf oder sechs Jahre alt. Sie spielte im Sand, und die Sonne schien ihr ins Gesicht. Ich badete und spielte nicht; ich hatte sie immer im Auge, achtete darauf, dass sie nicht in die Brandung lief, wo die Flut sie erwischen konnte, und
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