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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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sie dort lebte, über Gebühr beeindrucken. Ganz gleich, welchen Erfolg wir hatten, meine Mutter war nicht bereit, die Werte aufzugeben, mit denen sie groß geworden war, und sie vergaß nie, woher sie kam.
    Als wir in das Haus zogen, gehörte es zu den ersten Taten meiner Mutter, dass sie ihrer eigenen Mutter Lina dabei half, ein Stück grünen Rasen neben dem Haus umzugraben und Platz für einen riesigen Gemüsegarten zu schaffen. (Später kamen im Hinterhof auch noch Enten und Hühner dazu. Unsere Nachbarn damals staunten sicher nicht schlecht über diese blau äugige, weißhaarige Frau, die wie eine einfache Bäuerin aussah und mitten in dem gediegenen und geschniegelten Stadtviertel einen richtigen kleinen Bauernhof betrieb.) Unter Linas liebevoller Fürsorge produzierte der Garten schon bald eine Rekordernte an Bohnen, Erbsen, Blattgemüse, Paprikaschoten, Kürbissen, Mais und Tomaten. Es war so viel, dass wir nicht alles essen konnten, aber meine Mutter ließ nicht zu, dass etwas weggeworfen wurde. Stundenlang stand sie mit Lina in der Küche, kochte die Reste in Gläsern ein und verstaute alles in der Speisekammer, sodass wir das ganze Jahr über die Gartenfrüchte genießen konnten. Meine Mutter hatte etwas gegen Vergeudung und Protz; sie schätzte das Einfache und verlor nie den Glauben an den Wert harter Arbeit. Die Firma meines Vaters verlangte ihr eine Menge ab, und sie setzte sich stets unermüdlich ein. Auch an unserem Leben nahm sie regen Anteil: Sie war immer da, um uns zur Schule zu schicken und hinterher wieder in Empfang zu nehmen, und nie verpasste sie meine Fußball- und Rugbyspiele oder dieTheater- und Musikvorführungen meiner Schwester in der Schule. Sie war eine Frau von großer, ruhiger Energie, voller Selbstvertrauen und vernünftiger Ratschläge, unerschöpflich in ihrem Einfallsreichtum und ihrem Urteilsvermögen. Gerade Letzteres schätzten ihre Bekannten an ihr.
    Einmal begleitete sie im Rahmen eines vom Rotary Club organisierten Ausfluges fünfzehn halbwüchsige Kinder für ein Wochenende von Carrasco nach Buenos Aires. Wenige Stunden, nachdem sie dort eingetroffen waren, wurde die Stadt von einem Militärputsch erschüttert, mit dem die argentinische Regierung gestürzt werden sollte. In den Straßen herrschte das blanke Chaos, und bei uns zu Hause stand das Telefon nicht mehr still, weil besorgte Eltern wissen wollten, ob ihre Kinder in Sicherheit seien. Immer wieder hörte ich, wie mein Vater sie beruhigte; mit unerschütterlicher Zuversicht in der Stimme sagte er: »Xenia ist bei ihnen, da kann ihnen nichts passieren.« Und tatsächlich sorgte meine Mutter dafür, dass ihnen nichts geschah. Kurz vor Mitternacht gelangte sie zu dem Schluss, es sei in Buenos Aires nicht mehr sicher, und sie wusste, dass die letzte Fähre nach Montevideo in wenigen Minuten ablegen würde. Also rief sie bei der Reederei an und überredete die nervösen Lotsen, die Abfahrt so lange aufzuschieben, bis sie mit den Kindern am Hafen war. Dann sammelte sie die Kinder und ihre Habseligkeiten ein und geleitete sie durch die unruhigen Stra ßen von Buenos Aires zu der dunklen Kaimauer, wo die Fähre lag. Alle gingen unbehelligt an Bord, und um drei Uhr morgens, drei Stunden nach der fahrplanmäßigen Abfahrtzeit, machte das Schiff die Leinen los. Sie war ein wahrer Fels in der Brandung, aber diese Stärke gründete sich stets auf Warmherzigkeit und Liebe. Durch ihre Liebe und Fürsorge wuchs ich in dem Glauben auf, die Welt sei etwas Sicheres und Vertrautes.
    Als ich zur Oberschule ging, besaßen meine Eltern in Uruguay drei große, gut gehende Eisenwarengeschäfte. Außerdem importierte mein Vater Waren aus der ganzen Welt und vertrieb sie als Großhändler an kleinere Eisenwarenhandlungen in ganz Südamerika. Der arme Junge aus dem ländlichen Estación Gonzalez hatte es im Leben weit gebracht, und das verschaffte ihm wohl ein Gefühl großer Befriedigung. Dennoch bestand für mich nie der geringste Zweifel, dass er das alles für uns getan hatte. Er hatte uns ein Leben voller Annehmlichkeiten und Privilegien ermöglicht, wie sein eigener Vater es sich nie hätte träumen lassen, hatte uns so gut er konnte versorgt und beschützt, und obwohl er kein Mensch war, der seine Gefühle offen zeigte, bekamen wir seine Liebe dennoch stets auf eine subtile, stille Art und Weise zu spüren. Als ich klein war, nahm er mich häufig mit in den Laden, ging mit mir an den Regalen entlang und weihte mich geduldig in die

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