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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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verlangt, aber ich kann leider nicht mehr helfen, und fast ein jeder, den ich abweisen muß, fühlt sich enttäuscht und wird zum Feind. Ich konstatiere, daß jene Gewissenlosigkeit, mich als einen steinreichen Mann zu schildern, mir mehr, viel mehr geschadet hat als alle gegnerischen Kritiken und sonstigen Feindseligkeiten zusammengenommen.
    Nach dieser Abschweifung, die ich für nötig hielt, nun wieder zurück zur ‚Jugend‘ dieses angeblichen ‚Millionärs‘, der nach ganz anderen Schätzen strebt als alle die, welche ihn auszubeuten trachten.
    Es waren damals schlimme Zeiten, zumal für die armen Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat liegt. Dem gegenwärtigen Wohlstand ist es fast unmöglich, sich vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgang der vierziger Jahre dort durch das Leben hungerte. Arbeitslosigkeit, Mißwachs, Teuerung und Revolution, diese vier Worte erklären alles. Es mangelte uns an fast allem, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft gehört. Wir baten uns von unserem Nachbarn, dem Gastwirt ‚Zur Stadt Glauchau‘, des Mittags die Kartoffelschalen aus, um die wenigen Brocken, die vielleicht noch daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden. Wir gingen nach der ‚roten Mühle‘ und ließen uns einige Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um irgend etwas Nahrungsmittelähnliches daraus zu machen. Wir pflückten von den Schutthaufen Melde, von den Rainen Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich, um das zu kochen und mit ihm den Magen zu füllen. Die Blätter der Melde fühlen sich fettig an. Das ergab beim Kochen zwei oder drei kleine Fettäuglein, die auf dem Wasser schwammen. Wie nahrhaft und wie delikat uns das erschien! Glücklicherweise gab es unter den vielen Webern des Ortes, die arbeitslos waren, auch einige wenige Strumpfwirker, deren Geschäft nicht ganz zum Stillstehen kam. Sie webten Handschuhe, so außerordentlich billige weiße Handschuhe, die man den Leichen anzieht, ehe sie begraben werden. Es gelang Mutter, solche Leichenhandschuhe zum Nähen zu bekommen. Da saßen wir nun alle, der Vater ausgenommen, von früh bis abends spät und stichelten darauf los. Mutter nähte die Daumen, denn das war schwer, Großmutter die Längen mit dem kleinen Finger und ich mit den Schwestern die Mittelfinger. Wenn wir recht fleißig waren, hatten wir alle zwölf Neugroschen verdient. Welch ein Kapital! Dafür gab es für fünf Pfennig Runkelrübensirup, auf fünf Dreierbrötchen gestrichen; die wurden sehr gewissenhaft zerkleinert und verteilt. Das war zugleich Belohnung für die verflossene und Anregung für die kommende Woche.
    Während wir in dieser Weise fleißig daheim arbeiteten, hatte Vater ebenso fleißig auswärts zu tun; leider aber war seine Arbeit mehr ehrend als nährend. Es galt nämlich, den König Friedrich August und die ganze sächsische Regierung vor dem Untergange zu retten. Vorher hatte man grad das Entgegengesetzte gedacht: Der König sollte abgesetzt und die Regierung aus dem Land gejagt werden. Das wollte man fast in ganz Sachsen; aber in Hohenstein und Ernsttal kam man sehr bald hiervon zurück, und zwar aus den vortrefflichsten Gründen; es war nämlich zu gefährlich! Die lautesten Schreier hatten sich zusammengetan und einen Bäckerladen gestürmt. Da kam die heilige Hermandad und sperrte sie alle ein. Sie fühlten sich zwar einige Tage lang als politische Opfer und Märtyrer groß und mächtig, aber ihre Frauen wollten von solchem Heldentum nichts wissen; sie sträubten sich mit aller Gewalt dagegen. Sie kamen zusammen; sie gingen auseinander; sie liefen auf und ab; sie gewannen die anderen Frauen; sie politisierten; sie diplomatisierten; sie drohten; sie baten. Ruhige, vernünftige Männer gesellten sich zu ihnen. Der alte, ehrwürdige Pastor Schmidt hielt Friedensreden. Der Herr Stadtrichter Layritz auch. Der Polizist Eberhardt ging von Haus zu Haus und warnte vor den schrecklichen Folgen der Empörung; der Wachtmeister Grabner sekundierte ihm dabei. Am großen Kirchentor erzählten sich die Jungens in der Abenddämmerung nur noch vom Erschossenwerden, vom Aufgehangenwerden und ganz besonders vom Schafott, welches derart beschrieben wurde, daß jedermann, der es hörte, sich mit der Hand nach Hals und Nacken griff. So kam es, daß die Stimmung sich ganz gründlich änderte. Von der Absetzung des Königs war keine Rede mehr. Im Gegenteil, er hatte zu bleiben, denn einen besseren als ihn konnte es nirgends geben. Von jetzt an galt es nicht

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