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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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verrichten, kam zuerst der geliehene Gaul zurück. Der Herr Adjutant hatte ihn einem Boten übergeben, der ihn heimbrachte, weil Laufen besser sei als Reiten und weil der Reiter nicht genug Geld übrighabe, das Pferd zu ersetzen, falls es im Kampf verwundet oder gar erschossen werden sollte. Gegen Abend folgte der Webermeister Kretzschmar. Er behauptete, daß er mit seinen Plattfüßen nicht weitergekonnt habe; dies sei ein Naturfehler, den er nicht ändern könne. Als es dunkel geworden war, stellten sich noch einige andere ein, welche aus triftigen Gründen entlassen worden waren und die die Nachricht brachten, daß unser Armeekorps hinter Chemnitz bei Oederan biwakiere und Spione nach Freiberg geschickt habe, das dortige Schlachtfeld auszukundschaften. Gegen Morgen kam die überraschende, aber ganz und gar nicht traurige Kunde, daß man aus Freiberg die Weisung erhalten habe, sofort wieder umzukehren; man werde gar nicht gebraucht, denn die Preußen seien in Dresden eingerückt und so stehe für den König und die Regierung nicht das geringste mehr zu befürchten. Man kann sich wohl denken, daß es heut nun keine Schule und keinerlei Arbeit gab. Auch ich empörte mich gegen das Handschuhflicken. Ich riß einfach aus und gesellte mich den wackeren Buben und Mädels zu, welche elf Kompanien bilden und ihren heimkehrenden Vätern entgegenziehen sollten. Dieser Plan wurde ausgeführt. Wir kampierten bei den Wüstenbränder Teichen und zogen dann, als die Erwarteten kamen, mit ihnen unter klingendem Spiel und Trommelschlag den Schießhausberg hinab, wo unsere verwaisten Frauen und Mütter standen, um uns alle, groß und klein, teils gerührt, teils lachend in Empfang zu nehmen.
    Warum ich das alles so ausführlich erzähle? Des tiefen Eindrucks wegen, den es auf mich machte. Ich habe die Quellen nachzuweisen, aus denen die Ursachen meines Schicksals zusammengeflossen sind. Daß ich trotz allem, was später geschah, niemals auch nur einen einzigen Augenblick im Gottesglauben wankte und selbst dann, wenn das Schicksal mich gegen die harten Tafeln der Gesetze schleuderte, nichts von der Achtung vor diesen Gesetzen verlor, das wurzelt teils in mir selbst, teils aber auch in diesen kleinen Ereignissen der frühen Jugend, die alle mehr oder weniger bestimmend auf mich wirkten. Nie habe ich die Worte meines alten, guten Kantors vergessen, die mir nicht nur zu Fleisch und Blut, sondern zu Geist und Seele geworden sind.
    Nach diesen Aufregungen kehrte das Leben in seine ruhigen, früheren Bahnen zurück. Ich nähte wieder Handschuhe und ging in die Schule. Aber diese Schule genügte dem Vater nicht. Ich sollte mehr lernen als das, was der damalige Elementarunterricht bot. Meine Stimme entwickelte sich zu einem guten, volltönenden, umfangreichen Sopran. Infolgedessen nahm der Herr Kantor mich in die Kurrende auf. Ich wurde schnell treffsicher und der Öffentlichkeit gegenüber mutig. So kam es, daß mir schon nach kurzer Zeit die Kirchensoli übertragen wurden. Die Gemeinde war arm; sie hatte für teure Kirchenstücke keine Mittel übrig. Der Herr Kantor mußte sie abschreiben, und ich schrieb mit. Wo das nicht angängig war, da komponierte er selbst. Und er war Komponist! Und zwar was für einer! Aber er stammte aus dem kleinen, unbedeutenden Dörfchen Mittelbach, von blutarmen, ungebildeten Eltern, hatte sich durch das Musikstudium förmlich hindurchgehungert und, bis er Lehrer bzw. Kantor wurde, nur in blauen Leinenrock und blaue Leinenhosen kleiden können und sah einen Taler für ein Vermögen an, von dem man wochenlang leben konnte. Diese Armut hatte ihn um die Selbstbewertung gebracht. Er verstand es nicht, sich geltend zu machen. Er war mit allem zufrieden. Ein ganz vorzüglicher Orgel-, Klavier- und Violinspieler, konnte er auch die komponistische Behandlung jedes andern Musikinstrumentes und hätte es schnell zu Ruhm und Verdienst bringen können, wenn ihm mehr Selbstvertrauen und Mut zu eigen gewesen wäre. Jedermann wußte: Wo in Sachsen und den angrenzenden Gegenden eine neue Orgel eingeweiht wurde, da erschien ganz sicher der Kantor Strauch aus Ernsttal, um sie kennenzulernen und einmal spielen zu können. Das war die einzige Freude, die er sich gönnte. Denn mehr werden zu wollen als nur Kantor von Ernsttal, dazu fehlte ihm außer der Beherztheit besonders auch die Erlaubnis der sehr gestrengen Frau Friederike, die ein wohlhabendes Mädchen gewesen war und darum in der Ehe als zweiunddreißigfüßiger

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