74 - Mein Leben und Streben
mehr, ihn zu vertreiben, sondern ihn zu beschützen. Man hielt Versammlungen ab, um zu beraten, in welcher Weise dies am besten geschehe, und da allüberall vom Kampf und Krieg und Sieg gesprochen wurde, so verstand es sich ganz von selbst, daß auch wir Jungens und nicht nur in kriegerische Stimmungen, sondern auch in kriegerische Gewänder und kriegerische Heldentaten hineinarbeiteten. Ich freilich nur von ferne, denn ich war zu klein dazu und hatte keine Zeit; ich mußte Handschuhe nähen. Aber die anderen Buben und Mädels standen überall an den Ecken und Winkeln herum, erzählten einander, was sie daheim bei den Eltern gehört hatten, und hielten höchst wichtige Beratungen über die beste Art und Weise, die Monarchie zu erhalten und die Republik zu hintertreiben. Besonders über eine alte, böse Frau war man empört. Die war an allem schuld. Sie hieß die Anarchie und wohnte im tiefsten Wald. Aber des Nachts kam sie in die Städte, um die Häuser niederzureißen und die Scheunen anzubrennen; so eine Bestie! Glücklicherweise waren unsere Väter lauter Helden, von denen keiner sich vor irgend jemand fürchtete, auch nicht vor dieser ruppigen Anarchie. Man beschloß die allgemeine Bewaffnung für König und Vaterland. In Ernsttal gab es schon seit alten Zeiten eine Schützen- und eine Gardekompanie. Die erstere schoß nach einem hölzernen Vogel, die letztere nach einer hölzernen Scheibe. Zu diesen beiden Kompanien sollten noch zwei oder drei andere gegründet werden, besonders auch eine polnische Sensenkompanie zum Totstechen aus der Ferne. Da stellte es sich denn heraus, daß es in unserem Städtchen eine ganz ungewöhnliche Menge von Leuten gab, die ungemein kriegerisch veranlagt waren, strategisch sowohl als auch taktisch. Man wollte keinen von ihnen missen. Man zählte sie. Es waren dreiunddreißig. Das stimmte sehr gut und rechnete sich glatt aus, nämlich: Man brauchte pro Kompanie je einen Hauptmann, einen Oberleutnant und einen Leutnant; wenn man zu den Schützen und der Garde noch neun neue Kompanien formte, so ergab das in Summa elf, und alle dreiunddreißig Offiziere waren unter Dach und Fach. Dieser Vorschlag wurde ausgeführt, wobei die Kopfzahl der einzelnen Kompanien ganz selbstverständlich nur klein bemessen sein konnte; aber der Tambourmajor, Herr Strumpfwirkermeister Löser, der beim Militär gestanden und darum alle dreiunddreißig Offiziere einzuexerzieren hatte, behauptete, dies sei nur vorteilhaft, denn je kleiner eine Kompanie sei, desto weniger Leute könnten im Krieg von ihr weggeschossen werden, und so blieb es bei dem, was beschlossen worden war.
Mein Vater war Hauptmann der siebenten Kompanie. Er bekam einen Säbel und eine Signalpfeife. Aber er war mit dieser Charge nicht zufrieden; er trachtete nach Höherem. Darum beschloß er, sobald er ausexerziert war, sich ganz heimlich, ohne daß irgend jemand etwas davon bemerkte, im ‚höheren Kommando‘ einzuüben. Und da er mich ausersah, ihm dabei behilflich zu sein, so wurde ich einstweilen vom Handschuhnähen dispensiert und wanderte mit ihm tagtäglich hinaus in den Wald, wo auf einer rings von Büschen und Bäumen umgebenen Wiese unsere geheimen Evolutionen vorgenommen wurden. Vater war bald Leutnant, bald Hauptmann, bald Oberst, bald General; ich aber war die sächsische Armee. Ich wurde erst als ‚Zug‘, dann als ganze Kompanie einexerziert. Hierauf wurde ich Bataillon, Regiment, Brigade und Division. Ich mußte bald reiten, bald laufen, bald vor und bald zurück, bald nach rechts und bald nach links, bald angreifen und bald retirieren. Ich war zwar nicht auf den Kopf gefallen und hatte Lust und Liebe zur Sache. Aber ich war noch so jung und klein, und so kann man sich bei dem jähen Temperament meines Generals wohl denken, daß es mir nicht möglich war, mich in so kurzer Zeit von der einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur vollzähligen, gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die Strenge der militärischen Disziplin an mir erfahren zu haben. Aber ich weinte bei keiner Strafe; ich war zu stolz dazu. Eine sächsische Armee, welche weint, die gibt es nicht! Auch ließ der Lohn nicht auf sich warten. Als Vater Vizekommandant geworden war, sagte er zu mir: „Junge, dazu hast du viel geholfen. Ich bau dir eine Trommel. Du sollst Tambour werden!“ Wie das mich freute! Und es gab Augenblicke, in denen ich wirklich der Überzeugung war, alle diese Püffe, Stöße, Hiebe und Katzenköpfe nur zum Wohl und zur Rettung des Königs
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