74 - Mein Leben und Streben
‚Prinzipal‘ ertönte, während dem Herrn Kantor nur die Stimme einer sanften ‚Vox humana‘ zugebilligt wurde. Sie besaß mit ihrem Bruder gemeinsam einige Obstgärten, deren Erträgnisse mit der äußersten Genauigkeit verwertet wurden, und daß ich von ihr nur angefaulte oder teigige Äpfel und Birnen bekam, das habe ich bereits erwähnt. Sie wußte das aber mit einer Miene zu geben, als ob sie ein Königreich verschenke. Für den unendlich hohen Wert ihres Mannes, sowohl als Mensch wie auch als Künstler, hatte sie nicht das geringste Verständnis. Sie war an ihre Gärten und er infolgedessen an Ernsttal gekettet. Um sein geistiges Dasein und seine seelischen Bedürfnisse bekümmerte sie sich nicht. Sie öffnete keines seiner Bücher, und seine vielen Kompositionen verschwanden, sobald sie vollendet waren, tief in den staubigen Kisten, die unter dem Dach standen. Als er gestorben war, hat sie das alles als Makulatur an die Papiermühle verkauft, ohne daß ich dies verhindern konnte, denn ich war nicht daheim. Welch ein tiefes, von anderen kaum zu fassendes Elend es ist, für das ganze Leben an ein weibliches Wesen gebunden zu sein, welches nur in niederen Lüften atmet und selbst den begabtesten, ja genialsten Mann nicht in bessere Höhen kommen läßt, das ist nicht auszusagen. Mein alter Kantor konnte dieses Elend nur darum ertragen, weil er eine ungemeine Fügsamkeit besaß und hierzu eine Gutmütigkeit, die niemals vergessen konnte, daß er ein armer Teufel, die Friederike aber ein reiches Mädchen und außerdem die Schwester des Herrn Stadtrichters gewesen war.
Später gab er mir Orgel-, Klavier- und Violinunterricht. Ich habe bereits gesagt, daß Vater den Bogen zur Violine selbst fertigte. Dieser Unterricht war ganz selbstverständlich gratis, denn die Eltern waren zu arm, ihn zu bezahlen. Damit war die gestrenge Frau Friederike gar nicht einverstanden. Der Orgelunterricht wurde in der Kirche und der Violinunterricht in der Schulstube gegeben; da konnte die Frau Kantorin keine Handhabe finden. Aber das Klavier stand in der Wohnstube, und wenn ich da klopfte, um anzufragen, so kam der Herr Kantor unter zehnmal neunmal mit dem Bescheid heraus: „Es gibt heut keinen Unterricht, lieber Karl. Meine Frau Friederike hält es nicht aus; sie hat Migräne.“ Manchmal hieß es auch: „sie hat Vapeurs“. Was das war, wußte ich nicht, doch hielt ich es für eine Steigerung von dem, was ich auch nicht wußte, nämlich von der Migräne. Aber daß sich das immer nur dann einstellte, wenn ich klavierspielen kam, das wollte mir nicht gefallen. Der gute Herr Kantor glich das dadurch aus, daß er mich nach und nach, grad wie die Gelegenheit es brachte, auch in der Harmonielehre unterwies, was die Friederike gar nicht zu erfahren brauchte, doch war das in der späteren Knabenzeit, und so weit bin ich jetzt noch nicht.
Wie mein Vater sich in allem ungeduldig zeigte, so auch in dem, was er meine ‚Erziehung‘ nannte. Notabene mich ‚erzog‘ er; um die Schwestern bekümmerte er sich weniger. Er hatte alle seine Hoffnungen daraufgesetzt, daß ich im Leben das erreichen werde, was von ihm nicht zu erreichen war, nämlich nicht nur eine glückliche, sondern auch eine geistig höhere Lebensstellung. Denn das muß ich ihm nachrühmen, daß ihm zwar der Wunsch auf ein sogenanntes gutes Auskommen am nächsten stand, daß er aber den höheren Wert auf die kräftige Entwicklung der geistigen Persönlichkeit setzte. Er fühlte das im Innern mehr und deutlicher, als er es in Worten auszudrücken vermochte. Ich sollte ein gebildeter, womöglich ein hochgebildeter Mann werden, der für das allgemeine Menschheitswohl etwas zu leisten vermag; dies war sein Herzenswunsch, wenn er ihn auch nicht grad in diesen, sondern in andern Worten äußerte. Man sieht, er verlangte nicht wenig, aber das war nicht Vermessenheit von ihm, sondern er glaubte stets an das, was er wünschte, und war vollständig überzeugt, es erreichen zu können. Leider aber war er sich über die Wege, auf denen, und über die Mittel, durch welche dieses Ziel zu erreichen war, nicht klar, und er unterschätzte die gewaltigen Hindernisse, die seinem Plan entgegenstanden. Er war zu jedem, selbst zum größten Opfer bereit, aber er bedachte nicht, daß selbst das allergrößte Opfer eines armen Teufels dem Widerstand der Verhältnisse gegenüber kein Gramm, kein Quentchen wiegt. Und vor allen Dingen, er hatte keine Ahnung davon, daß ein ganz anderer Mann als er
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