74 - Mein Leben und Streben
dazu gehörte, mit leitender Hand derartigen Zielen zuzusteuern. Er war der Ansicht, daß ich vor allen Dingen so viel wie möglich, so schnell wie möglich zu lernen habe, und hiernach wurde mit größter Energie gehandelt.
Ich war mit fünf Jahren in die Schule gekommen, aus der man mit vierzehn Jahren entlassen wurde. Das Lernen fiel mir leicht. Ich holte schnell meine zwei Jahre ältere Schwester ein. Dann wurden die Schulbücher älterer Knaben gekauft. Ich mußte daheim die Aufgaben lösen, die ihnen in der Schule gestellt waren. So wurde ich sehr bald klassenfremd, für so ein kleines, weiches Menschenkind ein großes, psychologisches Übel, von dem Vater freilich so viel wie nichts verstand. Ich glaube, daß sogar nicht einmal die Lehrer ahnten, was für ein großer Fehler da begangen wurde. Sie gingen von der anspruchslosen Erwägung aus, daß ein Knabe, den man in seiner Klasse nichts mehr lehren kann, ganz einfach und trotz seiner Jugend in die nächst höhere Klasse zu versetzen ist. Diese Herren waren alle mehr oder weniger mit meinem Vater befreundet, und so drückte sogar der Herr Lokalschulinspektor ein Auge darüber zu, daß ich als acht- oder neunjähriger Knabe schon bei den elf- und zwölfjährigen saß. In Beziehung auf meine geistigen Fortschritte, zu denen in einer Elementarschule freilich nicht viel gehörte, war dies allerdings wohl richtig; seelisch aber bedeutete es einen großen, schmerzlichen Diebstahl, den man an mir beging. Ich bemerke hier, daß ich sehr scharf zwischen Geist und Seele, zwischen geistig und seelisch unterscheide. Was mir in den Klassen, in die ich meinem Alter nach noch nicht gehörte, für meinen kleinen Geist gegeben wurde, das wurde auf der andern Seite meiner Seele genommen. Ich saß nicht unter Altersgenossen. Ich wurde als Eindringling betrachtet und schwebte mit meinen kleinen, warmen, kindlich-seelischen Bedürfnissen in der Luft. Mit einem Wort, ich war gleich von Anfang an klassenfremd gewesen und wurde von Jahr zu Jahr klassenfremder. Die Kameraden, welche hinter mir lagen, hatte ich verloren, ohne die, bei denen ich mich befand, zu gewinnen. Ich bitte, ja nicht über dieses nur scheinbar winzige, höchst unwichtige Knabenschicksal zu lächeln. Der Erzieher, der sich im Reich der Menschen- und der Kindesseele auskennt, wird keinen Augenblick zögern, dies ernst, sehr ernst zu nehmen. Jeder erwachsene Mensch und noch viel mehr jedes Kind will festen Boden unter den Füßen haben, den es ja nicht verlieren darf. Mir aber war dieser Boden entzogen. Das, was man als ‚Jugend‘ bezeichnet, habe ich nie gehabt. Ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund ist mir nie beschieden gewesen. Die allereinfachste Folge davon ist, daß ich selbst noch heut, im hohen Alter, in meiner Heimat fremd bin, ja fremder noch als fremd. Man kennt mich dort nicht; man hat mich dort nie verstanden, und so ist es gekommen, daß um meine Person sich dort ein Gewebe von Sagen gesponnen hat, die ich ganz unmöglich zu unterschreiben vermag.
Das, was ich nach Vaters Ansicht zu lernen hatte, beschränkte sich keineswegs auf den Schulunterricht und auf die Schularbeiten. Er holte allen möglichen sogenannten Lehrstoff zusammen, ohne zu einer Auswahl befähigt zu sein oder eine geordnete Reihenfolge bestimmen zu können. Er brachte alles, was er fand, herbei. Ich mußte es lesen oder gar abschreiben, weil er meinte, daß ich es dadurch besser behalten könne. Was hatte ich da alles durchzumachen! Alte Gebetbücher, Rechenbücher, Naturgeschichten, gelehrte Abhandlungen, von denen ich kein Wort verstand. Eine Geographie Deutschlands aus dem Jahre 1802, über 500 Seiten stark, mußte ich ganz abschreiben, um mir die Ziffern leichter einzuprägen. Die stimmten natürlich längst nicht mehr! Ich saß ganze Tage und halbe Nächte lang, um mir dieses wüste, unnötige Zeug in den Kopf zu packen. Es war eine Verfütterung und Überfütterung sondergleichen. Ich wäre hieran wahrscheinlich zugrunde gegangen, wenn sich mein Körper nicht trotz der äußerst schmalen Kost so überaus kräftig entwickelt hätte, daß er selbst solche Anstrengungen ganz leidlich ertragen konnte. Und es gab auch Zeiten und Stunden der Erholung. Vater pflegte nämlich keinen Spaziergang und keinen Weg über Land zu machen, ohne mich mitzunehmen. Er pflegte hieran nur eine Verbindung zu knüpfen, nämlich die, daß kein Augenblick der Schulzeit dabei versäumt wurde. Die Spaziergänge durch Wald und Hain waren
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