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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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aber diese Störung kam von außen her und wurde nicht in der Weise aufgenommen, daß sie sich hätte festsetzen können. Sie hatte ihre Ursache in der ganz besonderen Art, in welcher die Theologie und der Religionsunterricht am Seminar behandelt wurde. Es gab täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder Schüler unweigerlich teilnehmen mußte. Das war ganz richtig. Wir wurden sonn- und feiertäglich in corpore in die Kirche geführt. Das war ebenso richtig. Es gab außerdem bestimmte Feierlichkeiten für Missions- und ähnliche Zwecke. Auch das war gut und zweckentsprechend. Und es gab für sämtliche Seminarklassen einen wohldurchdachten, sehr reichlich ausfallenden Unterricht in Religions-, Bibel- und Gesangbuchslehre. Das war ganz selbstverständlich. Aber es gab bei alledem eines nicht, nämlich grad das, was in allen religiösen Dingen die Hauptsache ist; nämlich es gab keine Liebe, keine Milde, keine Demut, keine Versöhnlichkeit. Der Unterricht war kalt, streng, hart. Es fehlte ihm jede Spur von Poesie. Anstatt zu beglücken, zu begeistern, stieß er ab. Die Religionsstunden waren diejenigen Stunden, für welche man sich am allerwenigsten zu erwärmen vermochte. Man war immer froh, wenn der Zeiger die Zwölf erreichte. Dabei wurde dieser Unterricht von Jahr zu Jahr in genau denselben Absätzen und genau denselben Worten und Ausdrücken geführt. Was es am heutigen Datum gab, das gab es im nächsten Jahre an demselben Tage ganz unweigerlich wieder. Das ging wie eine alte Kuckucksuhr; das klang alles so sehr nach Holz, und das sah alles so aus wie gemacht, wie fabriziert. Jeder einzelne Gedanke gehörte in sein bestimmtes Dutzend und durfte sich beileibe nicht an einer andern Stelle sehen lassen. Das ließ keine Spur von Wärme aufkommen; das tötete innerlich ab. Ich habe unter allen meinen Mitschülern keinen einzigen gekannt, der jemals ein sympathisches Wort über diese Art des Religionsunterrichts gesagt hätte. Und ich habe auch keinen gekannt, der so religiös gewesen wäre, aus freien Stücken einmal die Hände zu falten, um zu beten. Ich selbst habe stets und bei jeder Veranlassung gebetet; ich tue das auch noch heut, ohne mich zu genieren; aber damals im Seminar habe ich das geheimgehalten, weil ich das Lächeln meiner Mitschüler fürchtete.
    Ich hätte gern über diese religiösen Verhältnisse geschwiegen, durfte dies aber nicht, weil ich die Aufgabe habe, alles aufrichtig zu sagen, was auf meinen inneren und äußeren Werdegang von Einfluß war. Dieses Seminarchristentum kam mir ebenso seelenlos wie streitbar vor. Es befriedigte nicht und behauptete trotzdem, die einzige reine, wahre Lehre zu sein. Wie arm und wie gottverlassen man sich da fühlte! Die andern nahmen das gar nicht etwa als ein Unglück hin; sie waren gleichgültig; ich aber mit meiner religiösen Liebesbedürftigkeit fühlte mich erkältet und zog mich in mich selbst zurück. Ich vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr als daheim. Und ich wurde hier noch klassenfremder, als ich es dort gewesen war. Das lag teils in den Verhältnissen, teils aber auch an mir selbst.
    Ich wußte viel mehr als meine Mitschüler. Das darf ich sagen, ohne in den Verdacht der Prahlerei zu fallen. Denn was ich wußte, das war eben nichts weiter als nur Wust, eine regellose, ungeordnete Anhäufung von Wissensstoff, der mir nicht den geringsten Nutzen brachte, sondern mich nur beschwerte. Wenn ich mir ja einmal von dieser meiner unfruchtbaren Vielwisserei etwas merken ließ, sah man mich staunend an und lächelte darüber. Man fühlte instinktiv heraus, daß ich weniger beneidens- als vielmehr beklagenswert sei. Die andern, meist Lehrersöhne, hatten zwar nicht so viel gelernt, aber das, was sie gelernt hatten, lag wohlaufgespeichert und wohlgeordnet in den Kammern ihres Gedächtnisses, stets bereit, benutzt zu werden. Ich fühlte, daß ich gegen sie sehr im Nachteil stand, und sträubte mich doch, dies mir und ihnen einzugestehen. Meine stille und fleißige Hauptarbeit war, vor allen Dingen Ordnung in meinem armen Kopf zu schaffen, und das ging leider nicht so schnell, wie ich es wünschte. Das, was ich aufbaute, fiel immer wieder ein. Es war wie ein mühsames Graben durch einen Schneehaufen hindurch, dessen Massen immer wieder nachrutschten. Und dabei gab es einen Gegensatz, der sich absolut nicht beseitigen lassen wollte. Nämlich den Gegensatz zwischen meiner außerordentlich fruchtbaren Phantasie und der Trockenheit und absoluten

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