74 - Mein Leben und Streben
der Gebrauch, daß die Angelegenheiten jeder Klasse reihum zu besorgen waren, von jedem eine Woche lang. Darum wurde der Betreffende als ‚Wochner‘ bezeichnet. Außerdem gab es in der ersten Klasse einen ‚Ordnungswochner‘ und in der zweiten einen ‚Lichtwochner‘, welch letzterer die Beleuchtung der Klassenzimmer zu übersehen hatte. Diese Beleuchtung geschah damals mit Hilfe von Talglichtern, von denen, wenn eines niedergebrannt war, ein anderes neu aufgesteckt wurde. Der Lichtwochner hatte täglich die Säuberung der alten wertlosen Leuchter vorzunehmen und insbesondere die Dillen von den steckengebliebenen Docht- und Talgresten zu reinigen. Diese Reste wurden entweder einfach weggeworfen oder von dem Hausmann zu Stiefel- oder anderer Schmiere zusammengeschmolzen. Sie waren allgemein als wertlos anzusehen.
Es war anfangs der Weihnachtswoche, als die Reihe, Lichtwochner zu sein, an mich kam. Ich besorgte diese Arbeit wie jeder andere. Am Tag vor dem Weihnachtsheiligenabend begannen unsere Ferien. Am Tag vorher kam eine meiner Schwestern, um meine Wäsche abzuholen und das wenige Gepäck, welches ich mit in die Ferien gab. Der Weg, den sie da von Ernsttal nach Waidenburg machte, war zwei Stunden lang. So auch jetzt. Als sie dieses Mal kam, war ich grad beim Reinigen der Leuchter. Sie war traurig. Es stand nicht gut daheim. Es gab keine Arbeit und darum keinen Verdienst. Mutter pflegte, wie selbst die ärmsten Leute, für das Weihnachtsfest wenigstens einige Kuchen zu backen. Das hatte sie heuer kaum erschwingen können. Aber beschert werden konnte nichts, gar nichts, denn es fehlte das Geld dazu. Es gab keine Lichter für den Weihnachtsleuchter. Sogar die hölzernen Engel der kleineren Schwestern sollten ohne Lichte sein. Zu diesen Engeln gehörten drei kleine Lichte, das Stück für fünf oder sechs Pfennige; aber wenn diese achtzehn Pfennige zu andern, notwendigeren Dingen gebraucht wurden, so hatte man sich eben zu fügen. Das tat mir weh. Der Schwester stand das Weinen hinter den Augen. Sie sah die Talgreste, die ich soeben aus den Dillen und von den Leuchtern herabgekratzt hatte.
„Könnte man denn nicht daraus einige Pfenniglichte machen?“ fragte sie.
„Ganz leicht“, antwortete ich. „Man braucht dazu eine Papierröhre und einen Docht, weiter nichts. Aber brennen würde es schlecht, denn dieses Zeug ist nur noch höchstens für Schmiere zu gebrauchen.“
„Wenn auch, wenn auch! Wir hätten doch eine Art von Licht für die drei Engel. Wem gehört dieser Abfall?“
„Eigentlich niemandem. Ich habe ihn zum Hausmann zu schaffen. Ob der ihn wegwirft oder nicht, ist seine Sache.“
„Also wäre es wohl nicht gestohlen, wenn wir uns ein bißchen davon mit nach Hause nähmen?“
„Gestohlen. Lächerlich! Fällt keinem Menschen ein! Der ganze Schmutz ist nicht drei Pfennige wert. Ich wickle dir ein wenig davon ein. Daraus machen wir drei kleine Weihnachtslichte.“
Gesagt, getan! Wir waren nicht allein. Ein anderer Seminarist stand dabei. Einer aus der ersten Klasse, also eine Klasse über mir. Es widerstrebt mir, seinen Namen zu nennen. Sein Vater war Gendarm. Dieser wackere Mitschüler sah alles mit an. Er warnte mich nicht etwa, sondern er war ganz freundlich dabei, ging fort und – zeigte mich an. Der Herr Direktor kam in eigener Person, den ‚Diebstahl‘ zu untersuchen. Ich gestand sehr ruhig ein, was ich getan hatte, und gab den ‚Raub‘, den ich begangen hatte, zurück. Ich dachte wahrhaftig nichts Arges. Er aber nannte mich einen ‚infernalischen Charakter‘ und rief die Lehrerkonferenz zusammen, über mich und meine Strafe zu entscheiden. Schon nach einer halben Stunde wurde sie mir verkündet. Ich war aus dem Seminar entlassen und konnte gehen, wohin es mir beliebte. Ich ging gleich mit der Schwester – in die heiligen Christferien – ohne Talg für die Weihnachtsengel – es waren das sehr trübe, dunkle Weihnachtsfeiertage. Ich habe wohl überhaupt schon gesagt, daß grad Weihnacht für mich oft eine Zeit der Trauer, nicht der Freude gewesen sei. An diesen Weihnachtstagen löschten heilige Flammen in mir aus, Lichter, die mir wert gewesen waren. Ich lernte zwischen Christentum und seinen Bekennern unterscheiden. Ich hatte Christen kennengelernt, die unchristlicher gegen mich verfahren waren, als Juden, Türken und Heiden verfahren würden.
Glücklicherweise zeigte sich das Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts, an welches ich mich wendete,
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