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8 Tage im Juni

8 Tage im Juni

Titel: 8 Tage im Juni Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Glaser
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Schmerzen. Rintintin drängelte sich an Lovis vorbei und sprang mit eine gewaltigen Satz in den Lkw. Lovis folgte als Letzter und schlug die Tür in dem Augenblick zu, als Toni und der Bullige die Anhöhe zur Straße erklommen. Der Russe startete den Wagen. Jenny legte den Arm um Rintintin und griff nach Lovis’ Hand. Die war schweißnass und bibberte wie sein ganzer Körper. Sein Herz pochte so heftig gegen den Brustkorb, als wollte es herausspringen. Als Lovis etwas ruhiger atmete, warf er einen Blick in den Seitenspiegel und sah, wie der Psychopath mit der Gitarre kämpfte. Die beiden anderen schwangen wütend die Fäuste. Alle wurden kleiner und kleiner.
    Tausend Euro futsch. So viel hatte seine Gitarre gekostet. Aber er hatte die Schläger tatsächlich abgehängt.
    Angst klemmte Jenny die Luft ab, der riesige Lkw war voll davon. Angst, die sie und Lovis mit hereingebracht hatten, sogar Rintintins Fell stank nach Angst. Sie griff über Lovis hinweg nach der Kurbel des Seitenfensters, drehte es herunter und ließ Frischluft in die Fahrerkabine, aber so leicht ließ sich die Angst nicht vertreiben. Sie klebte an ihr wie ein hartnäckiges Ungeziefer.
    Der Lkw-Fahrer fragte Lovis etwas auf Russisch und Lovis antwortete ihm. Die fremden Laute schwirrten über sie hinweg, all die weichen Dschs, all die rollenden Rs, die sanften Ds, denen sie so gerne lauschte, wenn die Tartaren in der Roten Burg miteinander sprachen. Sie mischten sich mit dem kräftigen Brummen des Lkw und eine Weile ließ sich Jenny einlullen von diesen beruhigenden Tönen und träumte sich weit weg. Ob der Laster nach Russland fuhr? Dann würden sie ewig unterwegs sein, tage-, nächtelang fahren, würden sich tausende von Kilometern von der Roten Burg entfernen, so weit wegreisen, dass Toni und die zwei Schläger sie niemals finden würden.
    Die Sieg war jedenfalls nicht weit genug weg gewesen. Das kleine rote Zelt. Wieso hatte sie nicht in ihrer Erinnerung geforscht, als das Alarmglöckchen klingelte? In der Lakritz-Küsse-Zeit hatte sie Toni mal mit auf den Campingplatz genommen, Cosima war noch dabei gewesen, und gemeinsam hatten sie in dem kleinen roten Zelt übernachtet. Toni hatte ihnen blutrünstige Vampirgeschichten erzählt, sie hatten kaum geschlafen und waren schon beim ersten Morgengrauen wieder auf den Beinen gewesen. Wieso hatte sie das vergessen?
    Und wieso war sie so blöd gewesen und hatte auf den Zettel in der Küche »Ich mache einen Ausflug« geschrieben? Bestimmt war Toni vom Wiener Platz zurück zur Roten Burg gelaufen und hatte sich bei Jasmin nach ihr erkundigt. Charmant und einnehmend, wie er ja sein konnte. »Sie sehen blendend aus, Frau Schwarzer …« Bestimmt hatte ihm Jasmin den Zettel gezeigt. »Ausflug!« Da hatte er ja wirklich nur eins und eins zusammenzählen müssen und Jasmin hatte ihm wahrscheinlich sogar noch die genaue Wegbeschreibung mitgeliefert.
    Das Alarmglöckchen und der Zettel, zwei Fehler, die Jenny nicht hätte machen dürfen, zwei vermeidbare Fehler. Wenn sie nur ein bisschen besser nachgedacht, sofort auf ihr komisches Gefühl reagiert hätte! Aber Selbstvorwürfe halfen ihr nicht weiter. Kein Mensch konnte immer auf der Hut sein.
    Sie könnte doch wirklich mit Lovis nach Russland reisen. Wohnte seine Mutter nicht da? Das wäre eine richtige Auszeit, nicht so was wie die Mädchen-WG. Die Mädchen-WG! Stimmt, die gab es auch noch. Noch so eine Entscheidung, die sie fällen musste.
    Russland, Russland, Russland, wiederholte sie, als könnte bereits das intensive Denken daran den Wunsch Wirklichkeit werden lassen. Sie stellte sich weite Birkenwälder vor, einsame Bergseen und Schnee ohne Ende. In einem Birkenwald würde sie mit Lovis in einer kleinen Waldhütte leben. Alles müssten sie selbst machen: Wasser holen, Holz hacken, Beeren pflücken, Pilze suchen, Wild jagen, Fische fangen. Überleben.
    Der Blick auf die Straße zeigte ihr mal wieder, dass das Wünschen nicht half. »Köln fünfzehn Kilometer«, las sie auf einem blauen Autobahnschild. Der Lkw fuhr nicht nach Russland, sondern brachte sie gradewegs zu dem Ort zurück, von dem aus sie heute Morgen geflohen war.
    Und tatsächlich. Keine zwanzig Minuten später verließ der Russe die Autobahn, fuhr durch Straßen, die ihr völlig unbekannt waren, und hielt an einer Endhaltestelle der Bahn an.

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