Abaton
Hund auf sein Board zu hieven. Keine Chance. Timber war gutmütig gegenüber Linus, aber er war nicht blöd. Er verließ sich lieber auf seine vier Pfoten als auf vier Wheels. Bei dieser Judith aber, da machte Timber, der von aller Nachbarschaft so gefürchtete Hund, buchstäblich Männchen.
„Liegt daran, dass ich Zirkus-Dompteure in der Familie hab“, sagte Judith. „Sitz!“ Timber setzte sich. „Komm her!“, sagte Judith zu ihm und Linus kam. Sie schaute ihn an, sie war größer als er. Dann umfasste sie sein Gesicht mit beiden Händen. Linus zuckte zurück.
„Halt still!“, sagte sie und Linus verharrte. Sie näherte sich. Und küsste ihn. Und dann spürte Linus auf einmal etwas glitschig Feuchtes in seinem Mund. Da wand sich irgendetwas Seltsames zwischen seinen Zähnen hindurch. Linus musste unwillkürlich an die Würmer denken, die Judith gegessen hatte. Sollte er jetzt zulassen, dass er kotzte? Aber nein, das war kein Regenwurm. Konnte keiner sein. Das war dicker. Viel dicker. Und plötzlich war Linus bei der Sache auch nicht mehr so unwohl. Auch weil seine Zunge plötzlich begann, sich um den feuchten Eindringling herumzuwinden, als wollte sie ihn zu fassen kriegen. War nicht seine Absicht. Es passierte einfach. Als hätte sich seine Zunge vom Rest des Körpers abgekoppelt und führte nun ein Eigenleben. Linus wurde klar: Wenn das seine Zunge war, die sich in seinem Mund da wand wie im Ringkampf, dann war der glitschige Gegner mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Zunge von Judith. Und das bedeutete ... das bedeutete ...
„Meine Scheiße! Zungenkuss!“
Mit dem Schmatzen eines sich lösenden Unterdrucks trennte sich Linus. Außer Atem stand er vor dem Mädchen und starrte es an.
„Das war ’n Mega-Zungenkuss!“
„Mhm. Ist gut gegen Grippe“, sagte Judith knochentrocken. „Stärkt das Immunsystem.“
Linus sah sie fassungslos an und ahnte, dass er gegen diese Art der Grippevorsorge von nun an für sein ganzes Leben nicht mehr immun sein würde.
„Hab so ’n Kratzen im Hals“, sagte er dann und hoffte, dass Judith mit ihrer Behandlung fortfahren würde. Da klingelte sein Handy und seine Eltern meldeten sich noch mal. Linus war genervt. Sie saßen immer noch in der U-Bahn fest. Ein Weichenfehler hatte sie auf ein falsches Gleis gelenkt. Jetzt mussten alle Passagiere zu Fuß durch den Tunnel zum nächsten Notausstieg.
„Keine Angst, ist nicht gefährlich“, beruhigte der Vater ihn. Als ob Linus Angst gehabt hätte. Die einzige Angst, die er hatte, war, dass Judith gehen würde.
„Friedrichstraße ist der nächste Ausgang, hat der Fahrer gesagt.“ Das war das Letzte, was Linus von seinen Eltern gehört hatte. Irgendwo auf dem unterirdischen Weg von der U-Bahn zum Notausstieg waren sie dann verschwunden und nie wieder aufgetaucht.
Hätte Linus gewusst, dass es das Letzte war, was er von seinen Eltern hören würde, hätte er nicht nur „Ja ja“ gesagt und aufgelegt.
Aber wie hätte Linus in diesem Moment wissen sollen, dass er seine Eltern nie wiedersehen würde? Scheiße! Warum hatten sie nicht gesagt, dass sie ihn liebten? Warum hatte er es nicht gesagt? Was für eine beschissene Lüge waren doch diese „famous last words“, von denen immer wieder mal die Rede war. Nichts als Lug und Trug.
Linus spürte, wie ihm bei der Erinnerung an das letzte Telefonat mit seinen Eltern Tränen in die Augen stiegen. Sofort wurde er wütend, weil er dieser verdammten Trauer nichts entgegensetzen konnte. Er musste jetzt wieder seine ganze Wut nutzen, um die Tränen zurückzudrängen. Und an seine Mission zu denken. Denn mit diesem Abschied wollte er sich nicht abfinden. Das konnte kein Abschied gewesen sein, jedenfalls nicht für immer. Nicht so. Am Handy. Seine Eltern waren hier unten verschwunden. Und er würde herausbekommen, was passiert war. Er würde sie finden. Das hatte er sich geschworen.
In den letzten Monaten hatte sich Linus den Zugang zu den Computern der Berliner Verkehrsbetriebe erhackt. Hatte alle Aufzeichnungen der Überwachungskameras überprüft. Auf einer Sequenz hatte er seine Eltern entdeckt, wie sie am 22. September um 15 Uhr 43 am Anhalter Bahnhof die Bahn Richtung Norden bestiegen hatten. Aber danach waren sie nirgendwo mehr zu sehen gewesen. Linus hatte sogar die Bilder der Überwachungskamera in der Friedrichstraße entdeckt, die die Menschen zeigten, die um 18 Uhr 03 aus dem Notausgang geführt worden waren. Seine Eltern waren nicht dabei
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