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Abaton

Abaton

Titel: Abaton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Jeltsch
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gewesen.
    [ 1118 ]
    Ein Trompetensignal.
    Als käme die Kavallerie gerade noch rechtzeitig, bevor die armen Siedler von den Rothäuten skalpiert würden. So klang es für Simon, als er es zum ersten Mal hörte. Aber es war nur das Signal, mit dem die Teilnehmer des Camps über die zahlreichen Lautsprecher zum Sammelplatz gerufen wurden. Ihre Feldbetten waren hergerichtet, ihre Habseligkeiten im Zelt verstaut. Simon machte sich mit Linus auf den Weg zum Sammelplatz. Hinter Edda her. Ohne es zu verabreden, hatten sie beide so lange gewartet, bis sie losmarschiert war. War eben einfach netter, hinter einem hübschen Mädchen herzulaufen. Zuzusehen, wie es sich bewegte.
    Nicht, dass Edda das nicht bemerkt hätte. Jedenfalls hatte sie beide Mittelfinger nach hinten ausgestreckt, ohne sich umzudrehen.
    Am Sammelplatz war ein riesiger Holzstapel aufgeschichtet worden, der am Abend angezündet werden sollte. Edda lehnte sich demonstrativ gelangweilt an einen Zaunpfosten. Linus und Simon gingen an ihr vorbei und nahmen weiter vorne im Gras Platz. Sie hatten es weiß Gott nicht nötig, hinter einem Mädel herzurennen.
    Die Campleiterin beglückwünschte die Jugendlichen zu ihrer Teilnahme. Ab heute seien sie Teil einer kleinen, feinen Elite; auch wenn sie das natürlich nicht in den Vordergrund ihres gemeinsamen Aufenthalts stellen wollte. Eine weitere Rede wurde gehalten ... blubb ... blubb ... blubb ... blubb ... und Edda war, als würde sie ganz langsam auf den Boden eines tiefen Wasserbeckens sinken. Immer tiefer. Immer leiser wurden die Stimmen der anderen. Schließlich war es ganz still und Edda begann sich in ihrem Kopf umzuschauen wie auf einem aufgeräumten trockenen und warmen Dachboden, auf dem es gut roch. Nach Holz und Sommer. Und auf dem die Fäden ihres Lebens gespannt waren, an denen die Bilder ihrer Erinnerung hingen.
    Auf diesem Dachboden fühlte sie sich sicher. Ganz anders als in den Momenten, in denen sie sich dem Wahnsinn nahe fühlte. Sie bewegte sich sehr vorsichtig dort. Um manche Kisten auf diesem Boden machte sie einen riesigen Bogen, in die wollte sie ganz sicher nicht schauen.
    Edda verschwand oft auf diesem Dachboden.
    Vielleicht ein bisschen zu oft. Wenn jemand mehr als drei oder vier Sätze im gleichen Tonfall zu ihr sagte, zum Beispiel. Wenn Vorträge gehalten wurden. Und Standpauken. Wenn jemand nicht direkt mit Edda sprach, ihr nicht in die Augen schaute und nicht ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern seinen Text abspulte. Dann blickten ihre schönen, braunen Augen nur noch scheinbar interessiert und sie nickte in regelmäßigen Abständen automatisch mit dem Kopf. Damit niemand merkte, dass sie verschwunden war. Nur selten flog Eddas Tarnung auf. Nur selten interessierte sich jemand genügend für sie, um zu bemerken, dass hinter der Fassade zwar ein buntes, helles Lichtlein zu brennen schien – wie man es von einem Mädchen in ihrem Alter erwartete –, Edda aber in Gedanken weit fort war. Nur ihre Großmutter erkannte mit schöner Regelmäßigkeit, wenn sie mal wieder „abtauchte“.
    Hier im Camp bestand allerdings keine Gefahr, dass jemand bemerkte, wenn Edda auf dem Dachboden weilte. Edda dachte daran, wie sie als Kind eine Zeit lang jeden Tag in einer großen Gruppe wie dieser hier verbracht hatte. Als sie noch klein und wehrlos war. Gegen die langen Gottesdienste. Die Tänze. Die Rituale. Das Meditieren für Kinder mit Ohrstöpseln und Augenbinden. Damit sie sich auf „das Innen“ konzentrierten. Aber was war eigentlich das Innen? Das Innen war ihr Kopf. Da lauerten die Gedanken und die Dämonen, gegen die sie machtlos war. Doch auch die Ruhe. Und sie selbst.
    Das „Außen“ hatte sie inzwischen gelernt, in den Griff zu bekommen. Durch Charme, mit ihrer großen Schnauze und indem sie blitzschnell herausfand, wo einer verletzbar war. Das war der Vorteil, wenn man selbst verletzt worden war. Ja, gegen die Anfechtungen von Außen hatte Edda Techniken entwickelt.
    Sie konnte sich unsichtbar machen. Spurlos verschwinden. Und verdammt schnell.
    Das hatte sie von den Schlangen gelernt. In Indien. In dem kleinen Dorf in der Nähe des Ozeans. In den Hütten und kleinen Häusern mit vielen anderen Menschen, die keine Inder waren. Dort hatte Edda mit ihrer Mutter gelebt. Fast fünf Jahre lang. Edda hatte die Wärme dort geliebt. Und die frei laufenden Tiere; die Frösche, die Büffel und die kleinen Affen. Sie war das ganze Jahr barfuß gelaufen und hatte Reifen um die Knöchel

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