Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
überschlug. »Die Iren! … Sie wollen Sie töten! … Zurück! … Zurück!«
Wie von Furien gehetzt, rannte sie über den Hof auf den Mann zu, der auf den Verandastufen stehen geblieben war und die Flinte nun in beide Hände nahm.
Abby bemerkte eine Bewegung zu ihrer rechten Seite, sah eine Gestalt, hörte einen Fluch und erkannte Melvin, der da auf der Treppe stand, nur noch einige Schritte von ihr entfernt. Er schien zu zögern und nicht zu begreifen.
»Melvin! … Sie sind bewaffnet!«, schrie sie.
Melvin riss die Flinte hoch, und die beiden Schüsse, die die trügerische Stille der Nacht zerrissen, klangen wie einer.
Abby sah ein grelles Licht aus der Mündung der Flinte schießen und im selben Augenblick bohrte sich die Kugel in ihren Körper. Eine Riesenfaust schien sie getroffen zu haben. Sie hörte einen markerschütternden Schrei, der aus ihrer Kehle in die Nacht stieg, ohne dass sie das noch bewusst wahrnahm.
Dann prallte sie mit Melvin zusammen und stürzte zu Boden.
Ein warmer See schien sie zu umfangen und zog sie in eine pechschwarze Tiefe.
Siebenundzwanzigstes Kapitel
»Wo bleibt nur Andrew mit Doktor Stowe?«
»Es ist ein langer Weg nach Parramatta und zurück, auch für das schnellste Pferd und den besten Reiter.«
»Können wir denn sonst gar nichts für sie tun, Vater?«
»Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand, Sohn. Jetzt können wir nur noch beten und hoffen, dass sie nicht zu spät kommen.«
»Wird sie sterben?«
»Irgendwann müssen wir alle mal sterben, Sarah.«
»Aber Abby darf nicht sterben!«
Ein Meer von Stimmen und Wogen von Schmerz. Schemenhafte Gesichter, die plötzlich wie Nebelgebilde auftauchen und sich genauso schnell wieder verflüchtigen. Bilder einer Dachkammer. Die Stimme der Mutter. Und immer wieder Schmerzen, die sie wie ein Strudel hinabreißen, weg von den Stimmen und den Gesichtern.
Doch die Stimmen kehren wieder wie die Flammen, die ihren Körper verzehren. Neue Stimmen. Aus weiter Ferne. Geraune. Und dann ganz nah.
»Eine schwere Verletzung. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebt. Sie hat viel Blut verloren.«
»Sie müssen sie retten, Doktor!«
»Die ärztliche Heilkunst ist noch nicht so weit, um Wunder zu vollbringen, Mister Chandler. Ich werde versuchen, an die Kugel heranzukommen. Aber machen Sie sich nicht zu viel Hoffnungen. Nur eine starke Konstitution und ein noch stärkerer Überlebenswille werden sie am Leben halten können – wenn wir Glück haben!«
»Abby ist stark! … Und sie muss leben!«
Feuer, das sich in ihr gepeinigtes Fleisch bohrt. Glühendes Eisen, das ihr den Rücken aufreißt. Die Schläge der neunschwänzigen Peitsche. Ein Rücken, der ein rohes Stück Fleisch ist.
»Du musst Brot kaufen, Abby!«
»Mutter!«
Markttag. »Nur noch dieses eine Brot!«
»Versuch dein Glück woanders!« Das rosige Gesicht des Bäckers verwandelt sich in Münder, die sie anspucken: »Verbrecherflittchen! … Hängt sie auf! … An den Galgen mit dem Hurenmädchen!«
Fratzen unter gepuderten Perücken. »Sieben Jahre Verbannung!«
Emily, tot am Gitter, aufgehängt. Kälte, Ratten, Hunger.
Und immer wieder Schmerzen.
»Du darfst nicht aufgeben, Abby! Hörst du mich, Abby? Du musst kämpfen! … Du musst gesund werden!«
Durst. Doch der Mund bleibt zu einem stummen Schrei verzerrt. Endlich: Wasser auf ihren Lippen, ein feuchter Lappen, der ihre Stirn kühlt.
Eine zittrige Kinderstimme, die betet.
Immer wieder Schmerzen. Bilder und Stimmen. Alpträume.
Das tote Baby in den Armen der Frau. Cleos Gelächter. Rachel und Megan. Ein Gebirge aus Körben. Verzehrende Hitze.
»Alle wollen sie töten! … Sie haben eine Muskete! … Sie wollen Yulara auslöschen! … Die Fesseln! … Ich muss die Fesseln loswerden! … Ich muss sie warnen … Sarah, Andrew … alle! Sie werden sie töten! … Es wird zu spät sein!«
»Es ist ja alles gut, Abby! Ganz ruhig. Es war nicht zu spät. Uns ist nichts passiert. Du hast uns allen das Leben gerettet!«
Graues Haar. Jonathan Chandler?
»Sie fiebert, die ganze Nacht schon.«
»Komm, ich löse dich ab, Melvin.«
Hände, die über ihr Gesicht streichen, ihr den Schweiß abwaschen, ihre Hände halten. Andrew. Ein schöner Traum.
»Werd wieder gesund, liebste Abby! … Bitte, du darfst nicht sterben! Es soll mir auch egal sein, dass du meinen Bruder vorziehst. Nur sterben darfst du nicht, hörst du mich? Ich lasse nicht zu, dass du stirbst.«
»Die Haarbänder
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