Abendfrieden
die Bewohner der Familie Mewes vor sein inneres Auge: Sophie Bäumer, die Cousine beziehungsweise Tante; Norbert Mewes, der Sohn; Regine Mewes, die Ehefrau. Und Amalie Mewes, das Opfer. Die Bewohner der oberen Stockwerke konnte man außer Acht lassen, das waren nur Mieter. Das heißt – es gab auch Racheakte von Mietern. Mieter, die durchgedreht waren, weil man ihnen aus irgendwelchen Gründen mit Rauswurf gedroht hatte. Aber würden die zündeln, wenn ihr eigenes Mobiliar dabei mit draufging?
Telefonisch informierte der Kommissar seine Teamkollegen über den Fall und setzte eine Lagebesprechung an. Dann endlich ging er zum Mittagessen in die Kantine hinunter.
* * *
Der Dienstwagen der Kriminalpolizei, ein schwarzer Golf, fügte sich unauffällig in die Reihe parkender Autos ein. Elke Clausen gähnte. Sie hatte sich schon um acht Uhr morgens aufgebaut, wenn auch der alte Holthusen mit Sicherheit erst um neun oder vielleicht noch später seine Villa am Leinpfad verlassen würde. Jetzt war es viertel vor neun. Von ihren Fenstern aus konnten die Holthusens sie nicht sehen, es würde also nicht auffallen, dass hier eine junge Frau schon so lange in einem Auto saß. Aber sie durfte nicht ins Blickfeld geraten. Immerhin war sie neulich, bei der Hausdurchsuchung, in der Villa gewesen, und so würde man sie zweifellos wieder erkennen. Zu dumm, dass der dafür vorgesehene Kollege krank geworden war. Zur Sicherheit trug sie deshalb ihre blonden Haare nicht wie sonst als Pferdeschwanz, sondern offen, und eine große dunkle Sonnenbrille verdeckte ihre Züge fast völlig.
Elke Clausen gähnte erneut. Eigentlich war sie topfit, aber dieses Warten erschöpfte auch die Fittesten. Sie griff zur Thermosflasche und nahm einen Schluck Kaffee. Nur einen Schluck, ermahnte sie sich, sonst musste sie während der Observierung noch aufs Klo. Diese Unmöglichkeit, sich zum Pinkeln mal eben in eine Ecke zu stellen, war gemein von der Schöpfungsmacht, eine Bestrafung des weiblichen Geschlechts. Dafür konnte sie besser Auto fahren als die Jungs. Deshalb hatte Werner sie ja ausgewählt für diese Aktion. Weil sie am wendigsten fahren konnte.
Sie warf einen Blick auf das Boulevard-Blatt: »Klausjürgen Wussow: Hochzeit mit der Scholz-Witwe?« Das würde sie zu gern mal lesen … Nein, nicht jetzt. Sonst würde es ihr noch wie Bully gehen. Der hatte seinerzeit so tief in den Sportteil geguckt, dass ihm dieser verdächtige Albaner durch die Lappen gegangen war. Eine Riesenblamage. War ihm recht geschehen, diesem Bully. Hielt sich für einen zweiten ›Columbo‹, konnte aber nicht viel mehr, als frauenfeindliche Sprüche loszulassen. Noch einmal sah sie auf das Titelblatt. Die Bubi-Scholz-Sache war ja auch ein Kriminalfall. Der Boxer hatte seine Frau erschossen und trotzdem noch mal heiraten können. Vielleicht hatte die neue Frau Scholz ein Helfer-Syndrom …
Die Polizeibeamtin schreckte hoch. Eben öffnete sich die Tür der Villa, und Henri Holthusen ging durch das Eisentor zur Garage. Im sandfarbenen offenen Mantel, sicher ein Burberry, vermutete sie, darunter ein hellbrauner Anzug mit gelbem Einstecktupfer. Kurz darauf lenkte er seinen dunkelblauen Mercedes auf den Leinpfad. Elke Clausen folgte ihm, als er den Leinpfad verließ und links in die Fernsicht und dann in die Bellevue einbog. Straßennamen, die nicht treffender hätten sein können: Rechts ging der Blick auf die Außenalster, das Wasser glitzerte in der Sonne, gegenüber leuchteten weiße Patrizierhäuser aus zartgrünen buschigen Parkgärten. Aber am schönsten das Bild am Horizont. Im lichten Dunst die Türme der Stadt: Sankt Jacobi, Sankt Petri, Sankt Katharinen, das Rathaus und der Michel. Dazwischen als repräsentativer Konsumtempel das Alsterhaus, rechts das Finnland-Haus.
Henri Holthusen fuhr gemächlich, sie hatte keine Mühe, an ihm dran zu bleiben. Noch immer ging es an der Alster entlang. Wenn der Frühling etwas weiter war, würde sie bei »Bodos Bootssteg« wieder einen Liegestuhl und einen Caipirinha nehmen … Jetzt zur Herbert-Weichmann-Straße, die Alster war nicht mehr zu sehen, aber schon am Schwanenwik, gleich hinter dem Literaturhaus, kam sie mit ihren weißen tanzenden Booten wieder in Sicht. Als der Mercedes nach links in den Glockengießerwall bog, war klar, wo die Fahrt enden würde: in der Speicherstadt, in Holthusens Firma oder in seinem Tee-Museum.
Was sollte diese Beschattung denn wohl ergeben, dachte Elke Clausen mit leisem Zweifel. Das war
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